Auf der Suche
nach dem
politischen Tinguely

Eingeladen, mich mit dem politischen Tinguely zu befassen, habe ich mich auf den Weg gemacht. Die Idee hinter dem Auftrag: Zwei bekannte Geschichten könnten miteinander in Beziehung gesetzt werden, die Lebens- und Schaffensgeschichte des Künstlers Tinguely und die Landesgeschichte der Schweiz, vielleicht sogar die Weltgeschichte nach 1945. Die scheinbar einfache Aufgabe war und ist schwieriger, als man sich auf Anhieb vorstellt. Da wäre zunächst zu klären, was mit «politisch» gemeint sein kann. In gebotener Kürze geht es um Stellungnahmen zu gesellschaftsrelevanten Fragen. Dass nach dem politischen Tinguely gefragt wird, dürfte etwas überraschen, wenn man seine verbalen Bekenntnisse nicht kennt, hingegen einzig seine verspielten, amüsierenden und absurden Kreationen. Im Falle Tinguelys ist speziell zu unterscheiden zwischen dem allenfalls politischen Charakter seines künstlerischen Schaffens und seinen dieses Schaffen begleitenden, politisch sein wollenden Erklärungen.

 

Tinguely war ein kreativer Rebell. Dies wohl aufgrund seiner eigenen, persönlichen Disposition. Er wurde es aber auch wegen der engen Zeitverhältnisse, die ihn in den frühen Jahren des Kalten Kriegs umgaben. In den 1960er Jahren kam die enorme Dynamik des Wirtschaftsaufschwungs hinzu, dem Tinguely wegen der ihn begleitenden Verbraucher- und Wegwerfmentalität schon früh äusserst kritisch begegnete. Im gleichen Jahrzehnt entfaltete sich in der westlichen Gesellschaft die Bereitschaft, alternative Angebote in Politik und Kunst zu übernehmen. Dies brachte Tinguelys Schaffen wachsenden Zuspruch, dämpfte zugleich aber die damit angestrebte Brisanz. So wurde aus Kunst, die provozieren sollte, einfach Kunst an sich. Vertiefende Abklärungen zu dieser ersten, allgemeinen Feststellung sind wegen der eigenartigen Quellenlage nur beschränkt möglich. Wir sind in hohem Mass auf Tinguelys autobiografische Äusserungen angewiesen, die vom Künstler in Selbstinszenierungen an die Medien weitergereicht worden und von da aus in die Sekundärliteratur eingeflossen sind.1

 

Das so entstandene Narrativ geht davon aus, dass Tinguely streng autoritär sozialisiert worden sei, zunächst als katholischer Ministrant2 und als ordentlicher Pfadfinder.3 Darauf habe er das Lager gewechselt und sich der kommunistischen Bewegung angeschlossen, diese dann aber wieder verlassen, weil sie ebenfalls totalitär gewesen sei.4 Unter dem Einfluss des Basler Historikers und Buchhändlers Heinrich Koechlin5 folgte eine Phase der intensiven Auseinandersetzung mit dem individuellen Anarchismus. In diesen und in den vorangegangenen Jahren dürfte ihn die Lektüre sozialistischer Schriften (von Michail Alexandrowitsch Bakunin, Pjotr Alexejewitsch Kropotkin, Pierre-Joseph Proudhon, Karl Marx etc., aber auch Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Johann Jakob Bachofen und dem weniger bekannten Max Stirner und anderen)6 geprägt beziehungsweise in seiner persönlichen Neigung bestärkt haben.7 Von Tinguelys Partnerin Eva Aeppli ist der schöne Satz überliefert:

Und Jeannot begann zu lesen wie ein Durstiger, der Wasser trinkt.8

Diese frühen Schriften blieben, wie Guido Magnaguagno den Künstler erlebt hat, bei Tinguely hängen und noch in seinem späterem Denken präsent.9 Aber, wie Tinguely selbst erklärte, gab es nach der Begegnung mit dem Anarchismus keine Hinwendung zu weiteren Ismen.10 Es blieb aber die Freude am persönlich praktizierten Anarchismus, der die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse legitimierte, die Freiheit der Inkonsequenz. Inwiefern war Tinguely ein politischer Akteur? Koechlin, von dem sich Tinguely bis zu einem gewissen Grad inspirieren liess, gab die folgende Einschätzung ab:

Wirklich politisch aktiv war er eigentlich nie, er war immer eher ein Künstler. Aber alles, was radikal war, fand seine Zustimmung.11

Die zweite, nachgeschobene Feststellung ist darum wichtig, weil sie trotz ihres «Abers» festhält, was Tinguelys politische Haltung kennzeichnet: die Radikalität. Und zu ihr gehören auch die für seine Persönlichkeit charakteristische Leidenschaft und Intensität.

Tinguelys künstlerisches Schaffen ging aus einer gesellschaftskritischen Einstellung hervor und wollte mit einem alternativen Kunstverständnis in die Gesellschaft gesellschaftskritisch hineinwirken.12 Während Tinguelys Kreativität ausserordentliche, einzigartige Qualität hat, bewegen sich seine verbalen Deklarationen eher im Allgemeinen. Aber sie streben Aufmerksamkeit an und geben dem künstlerischen Œuvre zusätzliche Bedeutung. Stellvertretend für andere Aktionen und Interventionen sei auf das vielleicht 1959 über Düsseldorf abgeworfene Manifest Für Statik verwiesen. Selbstverständlich wurde diese Ode auf die Veränderlichkeit fotografisch festgehalten und verewigt.13

 

Pontus Hultén, kein verständnisloser Kritiker, sondern freundschaftlich verbundener Bewunderer, stellte 1972 fest, Tinguely mache Werbung für seine Kunst, «so wie man für ein neues Restaurant oder Waschmittel wirbt».14 Und Margrit Hahnloser verwies auf Tinguelys Bedürfnis, eine Bühne zu bespielen und mit Kunst-Aktionen Aufmerksamkeit erzeugende Auftritte zu inszenieren. Tinguely war ein begnadeter Selbstdarsteller und Selbstinterpret.15 Er verstand sich selbst als politischen Akteur und sorgte als medienaffiner Künstler dafür, dass er von anderen als das wahrgenommen wurde.16

 

Politisch war die Ambition, die Kunst auf «die Strasse» zu bringen und ein Publikum ohne traditionelles Kunstverständnis zu erreichen. Dort stiessen Tinguelys Maschinen-Konstrukte auf gemischte Reaktionen: teilweise auf Unverständnis und freundliche Ratlosigkeit, teilweise aber auch auf heitere, belustigte Zustimmung. In den 1960er Jahren gab es offenbar in wachsender Zahl Menschen, die von Neuem ansprechbar waren, ja auf Neues geradezu warteten. Beide, Künstler und das progressiv eingestellte Segment des Publikums, suchten einander und fanden sich. Das zeigte sich 1960 in den Reaktionen auf die Ausstellung in der von Franz Meyer geführten Berner Kunsthalle. In einem ausgiebigen Radio-Gespräch konnte Tinguely damals der schweizerischen Öffentlichkeit sein Kunstverständnis darlegen und erklären, dass insbesondere «die Jugend» kritisch auf das Wohlstands-Überangebot reagiere.17

Abb. 1 Jean Tinguely arbeitet an der beinahe fertigen Heureka, errichtet anlässlich der Expo 64, Lausanne, 1964, Museum Tinguely Basel

1960 gelangte das Trio Tinguely, Bernhard Luginbühl, Daniel Spoerri mit einem Vorschlag zur Errichtung eines gigantischen «dynamischen Labyrinths» an die Direktion der für 1964 geplanten Landesausstellung. Der Chefarchitekt Alberto Camenzind hätte diesen Super-Lunapark, wie er ihn bezeichnete, gerne realisiert. Das Projekt mit seinem hoch angesiedelten Helikopterlandeplatz erwies sich aber als zu teuer. Stattdessen kam dann Heureka (Abb. 1) zum Zug.18 Die dem Neuen aufgeschlossene Ausstellungsdirektion der Expo 64 räumte, in leichter Analogie zu Rolf Liebermanns Schreibmaschinen-Symphonie, Tinguelys Monstermaschine einen Platz ein.19 Heureka war insofern ein politisches Monument, als es mit künstlerischen Mitteln auf den Widerspruch zwischen unermüdlicher Betriebsamkeit und ihrer Sinnlosigkeit hinwies. Wie kam das Exponat an? Es könnte weniger schockiert haben, als angestrebt war. Tinguelys Kunstverständnis und die mitgelieferten politischen Botschaften erreichten jedenfalls die grössere schweizerische Öffentlichkeit.

 

Wie Tinguelys Engagement für die Expo 64 belegt auch ein 1967 von der linksliberalen Basler National-Zeitung veröffentlichtes Interview die wachsende Akzeptanz der von Tinguely produzierten Provokationen. Der Künstler konnte in der Serie «NZ packt heisse Eisen an» auf der Titelseite verkünden: «Kunst ist Revolte – Revolte ist Kunst» (Abb. 2).

Fig. 2 Tinguely findet in den 1968er Jahren als «Enfant terrible» mehr Anerkennung als Ablehnung, National-Zeitung vom 13. Oktober 1967

Bei diesem Auftritt äusserte der Revolutionär den Wunsch, in einem Schaufenster des Nobelwarenhauses Globus eine Zerstörmaschine ausstellen zu können.20 Die Idee dahinter: Die Konsumwaren schon im Kaufhaus, im Tempel der Konsumgesellschaft, demolieren. Die Pariser Galeries Lafayette liessen sich nicht überzeugen. Schliesslich konnte Tinguely im Oktober 1969 seine Rotozaza III im Schaufenster des Berner Warenhauses Loeb etwa zehn Teller pro Minute kaputtschlagen lassen, während der ganzen Ausstellungszeit insgesamt 12.000 Stück.21 Epigonen haben über drei Jahrzehnte später dieses Zerstörungsritual an der Expo 02 nochmals inszeniert, jetzt durchgeführt allerdings nicht von einer Maschine, sondern von Menschen.

 

Tinguely träumte davon, nicht nur Teller, sondern Magistrat:innen und Spitzenpolitiker:innen in die Luft zu jagen. 1970 verkündete er in einem Kommentar zur Abdankungsfeier für Staatspräsident de Gaulle in der Pariser Notre Dame: Was für ein Kunstwerk wäre es gewesen, die 100 hier versammelten Staatschefs auf einmal in den Himmel zu senden; eine Generation habe dies vielleicht verpasst.22

 

Die Suche nach dem politischen Tinguely führt uns auch auf die Bühne der Basler Fasnacht, die einerseits gemäss einer vom obrigkeitlichen Comité organisierten Ordnung funktioniert, andererseits aber auch immer wieder Versuche erlebt, aus dieser Ordnung auszubrechen. 1974 inszenierte eine rebellische Basler Fasnachtsgruppe, die «Kuttlebutzer», die in diesem Jahr ausnahmsweise am offiziellen Cortège mitmarschierten, unter Tinguelys massgebender Beteiligung ein gespieltes Attentat auf das vorgesetzte Comité und brachte damit ihre antiautoritäre Haltung sowie ihre Kritik am uniformen Charakter des Fasnachtsbetriebs zum Ausdruck.23 Das war ein rebellischer Akt gegen ein Volksfest, das im Kern selbst ebenfalls rebellischer Natur war. Die allgemeine Strassenfasnacht und die Schnitzelbängge waren und sind mit ihren Jahres-Sujets und -Versen politischer als die wunderbar fantasiereichen Kostüme der «Kuttlebutzer».24

 

Der Erfolg machte Tinguely zu einer gefragten Instanz. Dies gab ihm immer wieder die Möglichkeit, an die politische Bedeutung seiner Kunst zu erinnern. Das den Werken innewohnende politische Protestpotenzial ging jedoch in dem Mass verloren, als die Objekte vom grossen Publikum nach Momenten der Irritation begeistert aufgenommen wurden. Während Tinguelys Kunst an Ansehen und Anerkennung  zunahm, büsste sie ihre politische Funktion als oppositionelle Manifestation mit den Jahren weitgehend ein. Hingegen dürften Tinguelys verbale Bekenntnisse in den 1980er  Jahren gerade wegen seiner gesellschaftlichen Arriviertheit als anerkannter Künstler an Beachtung zugelegt haben. Tinguely nutzte die seiner Kunst entgegengebrachte Aufmerksamkeit, um seine politischen Botschaften zu verkünden, die von den Medien ebenso gerne entgegengenommen wurden.25 Tinguely markierte, wogegen er war: gegen «Konsumismus», gegen sture «Rentabilitätssteigerung», gegen autoritäre «Machtbeanspruchung». Das waren mehr oder weniger plakative Botschaften mit eher allgemeinen Imperativen. In späteren Jahren war «Merkantilismus» ein gerne benutztes Schlagwort.26


Es gibt Werke, die als politisch verstanden werden können, dies aber nicht mit ihrer Titelgebung zum Ausdruck bringen, etwa die bereits erwähnte Rotozaza III oder Heureka. Das eine Werk zielte auf den Materialismus der Konsumgesellschaft; das andere Werk war insofern ein politisches Monument, als es mit künstlerischen Mitteln auf den Widerspruch zwischen unermüdlicher Betriebsamkeit und ihrer Sinnlosigkeit hinwies und damit nach Tinguelys Worten Zweifel am Fortschritt und Kapitalismus aufkommen liess.27

 

Ausnahmsweise gibt es Werke mit politisierender Namensgebung; wenig offensichtlich im Fall etwa der Baluba-Skulpturen aus den Jahren 1961/1962. Zu ihnen heisst es im Katalog:

Die Namensgebung der Plastiken ist eine spontane Reaktion des Künstlers auf die damalige politische Situation im Kongo. Tinguely drückte mit dem Titel seine besondere Sympathie für den kongolesischen Premierminister Patrice Lumumba aus, der Anfang 1961 ermordet wurde.28

Politisch war das 1962 in der Nevada-Wüste inszenierte Sprengstoff-Happening Study for an End of the World, mit dem er auf die verheerenden Folgen des ungezügelten Konsums aufmerksam machte.29

 

Tinguelys Maschinenkunst wurde, von Pro Helvetia gesponsert und begleitet von zahlreichen aus der Schweiz mitgereisten Schlachtenbummler:innen, im Frühjahr 1990, also nach der «Wende», in Moskau gezeigt (Abb. 3). Das Hauptwerk war der Altar des westlichen Überflusses und des totalitären Merkantilismus. Die Titelgebung machte die Maschine politischer, als sie in ihrer wahrnehmbaren Erscheinung war und ist. Tinguely wollte mit diesem Werk nach eigener Aussage die Russen auffordern, über Werte und Fortschritt nachzudenken:

 

Ich wollte den russischen Menschen zeigen, wie reich wir leben – und wie lächerlich zugleich […]. Mit dem Altarstück wollte ich das Thema der totalen, kolossalen Idiotie unseres industriellen Kapitalismus aufgreifen.30

Tinguely hätte gerne schon früher im Machtbereich der Sowjetunion ausgestellt. Dass ihm dies nicht möglich war, nahm er als Beleg dafür, dass seine Kunst politisch war.31 Und offensichtlich sollte sie als das wahrgenommen werden, einzig Kunst genügte ihm nicht. Nachdem Tinguelys Werke im sogenannten Westen ihre provokative Kraft eingebüsst hatten, konnten sie im März 1990 in der nun zugänglich gewordenen Sowjetunion nochmals die ursprüngliche Funktion wahrnehmen. Gemäss dem vom schweizerischen Fernsehen dazu produzierten Bericht habe Tinguely in Moskau Denkschemen infrage gestellt und mit gut zwei Jahrzehnten Verschiebung den gleichen «belebenden Schock» ausgelöst wie 1964 in der Schweiz mit Heureka. Von Moskau aus verkündete Paul Jolles, der dem Freisinn mindestens nahestehende Altstaatssekretär und Verwaltungsratspräsident von Nestlé, anerkennend, Tinguely habe hier wie zuvor in der Schweiz Ideologien aufgebrochen.32

 

Bei Tinguely gibt es insofern einen deutlichen Hang zum Politischen, als er auf gesellschaftliche Entwicklungen reagierte und damit sein Publikum motivieren wollte, sich von vorherrschenden Normen zu emanzipieren und generell eine eigenständige Haltung einzunehmen. Das tat er, indem er aus Schrott und weiterem Zivilisationsabfall Gegenkunst produzierte und die so ausgelöste Aufmerksamkeit nutzte, um mit erläuternden Parolen darzulegen, wofür und wogegen er war.

Fig. 3 Jean Tinguely, Altar des westlichen Überflusses und des totalitären Merkantilismus, Moskau, 4. April–2. Mai 1990 (Russische Version), Museum Tinguely Basel

Abb. 4 Föderalistisches Bekenntnis zu den beiden Heimatkantonen an der 1.-August-Rede in Dietlikon (ZH), 1989

Abb. 5 1.-August-Rede von Jean Tinguely in Dietlikon – 7 Punkte Brouillon, Dietlikon, 1989, Museum Tinguely, Basel

Eine Abklärung des politischen Engagements sollte auch darauf achten, zu welchen politischen Gegebenheiten Tinguely möglicherweise nichts gesagt hat beziehungsweise nichts überliefert ist. Zu «Kaiseraugst» gibt es keine fassbare Distanzierung von der Atomtechnologie, aber eine Würdigung der oppositionellen Volksbewegung gegen autoritäre AKW-Entscheide. In der Literatur erscheinen keine Äusserungen zum Chemiebrand von Schweizerhalle.33 Es findet sich auch nichts zur wuchernden Überwachung durch den Staatsschutz, nichts zur Fremdenfeindlichkeit, nichts zum Vietnamkrieg, nichts zum fehlenden Frauenstimmrecht und auch nichts Fassbares zur 68er-Bewegung, obwohl Tinguely selbst ein eigenartiger Teil von ihr gewesen ist. Gemäss Pontus Hultén hatte Tinguely 1968 «unbegrenzte Sympathie» für die Pariser Mai-Revolte empfunden; er habe ihr hoch angerechnet, dass sie keinen Versuch unternahm, die Macht zu ergreifen, sodass ihre Ideen unkorrumpiert in die Tiefe dringen und weiterleben konnten.34

 

Neben den zahlreichen schlagwortartigen Adhoc-Verlautbarungen etwa gegen «Konsumismus» oder gegen «sture Rentabilitätssteigerung» oder gegen «autoritäre Machtbeanspruchung» etc. ragt eine etwas eingehendere Erklärung aus dem Jahr 1989 heraus: das «7-Punke-Sofortprogramm», vorgetragen 1989 in Dietlikon (ZH) als 1.-August-Rede, nicht untypisch mit mehr Angaben, wogegen er ist als wofür (Abb. 4).35

 

In Dietlikon kritisierte er, von Xavier Kollers Film Reise der Hoffnung (1990) stimuliert, die restriktive Flüchtlingspolitik sowie das Zubetonieren der Schweiz und ein wenig auch die Schädigung der Natur.36 Dazu gehörte die Kritik an der hohen Zahl der neu in den Verkehr gesetzten Autos,37 der industriellen Züchtung von Schweinen, der Entfernung von Kuhhörnern (was ihn als Freiburger besonders störte und den Anarchisten nicht hinderte, dazu ein obrigkeitliches Verbot zu fordern).38 Weiter beklagte er die Überalterung und den mangelnden Nachwuchs und beanstandete die Konzentration der zentralen Macht in Bern.39 Sein Bekenntnis zum Föderalismus brachte er an diesem Abend plakativ mit dem Hinweis auf seine beiden Heimkantone zum Ausdruck. Die Schweizer Armee erhielt ebenfalls warme Anerkennung.40 Einen gesamtschweizerischen EG-Beitritt lehnte er ab, kantonale Einzelmitgliedschaften, zum Beispiel von Basel, wollte er hingegen ermöglichen (auch wenn dies unmöglich ist).41 Und schliesslich würdigte er die englische Sprache als binnenschweizerische Lingua franca und sprach sich trotz der ebenfalls befürworteten Sprachenvielfalt für eine nationale Verständigungssprache aus. All dies ist der schwer entzifferbaren Forderungsliste aus der Hand des Künstlers zu entnehmen (Abb. 5).42

Zwei Jahre später, 1991, hielt Tinguely an seinem Wohn- und Arbeitsort Neyruz typischerweise bei der Mülldeponie der Gemeinde 30 Tage vor seinem Tod eine weitere 1.-August-Rede, die sich im Grossen und Ganzen in den gleichen Bahnen bewegte wie die vorgängige 1.-August-Rede.43 Etwas pauschal sprach er sich da für die Erneuerung der Schweiz aus und für nichts weniger als die Rettung der Welt. Als «neue Vision» forderte er absolute Gleichvertretungen von Männern und Frauen sowie von Jung und Alt auf allen Staatsebenen. Auch jetzt sprach sich Tinguely entschieden gegen den europäischen Binnenmarkt und die Mitwirkung der Schweiz aus, wiederum war er nicht gegen Mitgliedschaften einzelner Kantone. Explizit war er auch hier gegen die industrielle Schweineproduktion und gegen die Entfernung der Kuhhörner. Der Binnenmarkt möge gut sein für Nestlé und genannt wird auch Roche – «mais ce n’est pas bon pour nous». Tinguely erwartete skeptische Haltungen gegenüber dem politischen Europa, insbesondere gegenüber Frankreich mit seinen 58 Atomkraftwerken.

Abb. 6 1991, 700 Jahre Eidgenossenschaft: erfolgreiches Marketing und patriotisches Bekenntnis, Blick vom 14. Mai 1991

Wie viel Anarchismus steckte noch in Tinguelys Haltung gegenüber dem Jubiläum, mit dem die traditionelle Schweiz 1991 ihr angeblich 700-jähriges Bestehen feierte (Abb. 6)? Aus Protest gegen die 1990 publik gewordene Schnüffeltätigkeit des Staatsschutzes, den sogenannten Fichenskandal, boykottierten Hunderte von Kulturschaffenden die Jubiläumsfeierlichkeiten.44 Tinguely schloss sich dem Boykott nicht an. Direkt oder indirekt opponierte er sogar gegen diese Opposition.45 Er stellte sein unverkennbares Design einer Waadtländer Propagandabroschüre zu Verfügung und seine Marke in den Dienst dieses umstrittenen Jubiläums, sogar mit der Gestaltung einer Fest-Krawatte.46 Der Basler Zeitung gegenüber bekannte er:

Ich bin pro 700-Jahr-Feier, da ich ein Totalschweizer und ein absoluter Infernalpatriot bin.47

Auf der Suche nach dem politischen Tinguely – haben wir ihn gefunden? Ja und nein. Ja darum, weil wir eine Ahnung erhalten haben, dass es den politisch sein wollenden Tinguely gab. Heute fällt es aber schwer, die Sprengkraft und damit die politische Kraft zu erfassen, die in Tinguelys Kunstproduktion anfänglich angelegt war. Mit den Jahren schwand ihr Protestpotenzial und überwog die ihr schon immer ebenfalls innewohnende spielerische Seite. Die breite Akzeptanz nahm dem, was als Störaktion und Provokation gedacht war, ihre ursprüngliche Brisanz und damit auch weitgehend ihren politischen Charakter.

 

  1. Die vorliegenden Ausführungen beruhen auf den folgenden chronologisch aufgeführten Publikationen: «Interview mit Alain Jouffroy», in: L’Œil, Nr. 136, April 1966, S. 34–65; Hultén, K.G. Pontus, Jean Tinguely. «Meta», Berlin 1972; Violand-Hobi, Heidi E., Jean Tinguely, Biografie und Werk, München 1995; Daignes, Joceline, «Jean le Jeune. Ein wilder Philosoph in Basel», in: Pardey, Andres (Red.), Jean le Jeune. Jean Tinguelys politische und künstlerische Basler Lehrjahre und das Frühwerk bis 1959, Bern 2002, S. 23–65; Müller, Dominik, «Das Leben von Jean Tinguely», in: Pardey, Andres (Hg.)/Bek, Reinhard, Museum Tinguely. Die Sammlung, Heidelberg/Berlin 2012, S. 378–469; «Margrit Hahnloser im Gespräch mit Jean Tinguely», in: Mengele Totentanz. Jean Tinguely, Heidelberg 2017.
  2. Noch 1988 erklärte Tinguely im Gespräch mit Margrit Hahnloser: «… das ist mir in der Heiliggeistkirche in Basel mit einem Dampfhammer in den Grind hineingejätet worden. Dort fängt alles an.» (Müller 2012, S. 450 [wie Anm. 1]).
  3. Tinguely neigte nach eigenen Aussagen (vgl. Video von Thomas Thümena, Tinguely, Frenetic Films, 2011) schon in der Schule zu oppositionellem Verhalten.
  4. Daignes 2002, S. 40 (wie Anm. 1). Vgl. auch Hofer, Hansjürg, in: Pardey, Andres, Jean Tinguely und Basel, Basel (Privatdruck der Basler Zeitung, hg. von Wirtz, Gérard) 1997, S. 36–40.
  5. Schürch, Franziska/Koellreuter, Isabel, Heiner Koechlin 1918–1996. Porträt eines Basler Anarchisten, Basel 2013, S. 218.
  6. Weiteres zu Max Stirner bei Violand-Hobi 1995, S. 14 (wie Anm. 1).
  7. 1990 bezeichnete Tinguely diese Lektüre als «ganzen Scheiss». Daignes 2002, S. 59 (wie Anm. 1).
  8. Ebd., S. 60, nach Zuschrift Aeppli vom 16. August 1999. Übernommen von Müller 2012, S. 384 (wie Anm. 1).
  9. Vgl. Thümena 2011 (wie Anm. 3). Magnaguagno war von 1980 bis 2000 Kurator im Kunsthaus Zürich, 2001 bis 2009 war er Direktor am Basler Museum Tinguely. 
  10. TV-Gespräch «Vis-à-Vis-Gespräch mit Frank A. Meyer», 10.3.1988, siehe: https://www.srf.ch/play/tv/vis-a-vis/video/jean-tinguelyplastiker?urn=urn:srf:video:5cfe5020-3445-46aa-9634-1ef1074be9de (Zugriff am 20.6.2025).
  11. Koechlin im Gespräch, Juli 1986. Siehe Violand-Hobi 1995, S. 14 (wie Anm. 1).
  12. Tinguely erklärte, dass sein künstlerisches Schaffen die Folge seiner Unfähigkeit gewesen sei, den nihilistischen Anarchismus «glaubhaft zu einem Verhalten aufzubauen»; so sei er Störefried in der Kunst geworden, in: «Vis-à-Vis-Gespräch mit Frank A. Meyer», um 20'22" (wie Anm. 10).
  13. «Es bewegt sich alles. Stillstand gibt es nicht. Lasst Euch nicht von überlebten Zeitbegriffen beherrschen» etc. Siehe Violand-Hobbi 1995, S. 33 (wie Anm. 1); vgl. Müller 2012, S. 393 (wie Anm. 1).
  14. Hultén 1972, S. 80 (wie Anm. 1), zit. nach Müller 2012, S. 392 (wie Anm. 1).
  15. In diesem Sinn wirkten auch die alternativ zum konventionellen schwarzen Anzug ausserhalb von Arbeitssituationen praktizierten Auftritte im Überkleid als Marke, auch 1988 im grossen FernsehInterview mit Frank A. Meyer (wie Anm. 10).
  16. Violand-Hobi attestiert Tinguely «aussergewöhnliches Redetalent» und bezeichnet ihn als «grossen Showman» (Violand-Hobi 1995, S. 8 [wie Anm. 1]). Die Fussnoten-Belege von Heidi Violand-Hobi, Jocelyn Daignes und Dominik Müller zeigen, in welch reichem Mass Tinguely Gelegenheit hatte, in Medien-Interviews sich selbst zu interpretieren.
  17. «Ich glaube, dass die jungen Leute in den ausgestellten Apparaten eine kleine Attacke gesehen haben auf all die Kühlschränke und Automobile und Radio- und Fernsehposten und unsere ganze industrielle, automatische Ausrüstung, die wir nun anfangen immer mächtiger auszubauen. Ich glaube, dass die Jugend dadurch erst einmal angesprochen wurde», zit. nach Müller 2012, S. 396 (wie Anm. 1).
  18. Kübler, Christof, «Alberto Camenzind, Chefarchitekt der Expo 64: ein Gespräch», in: Kunst + Architektur, 1994/1, S. 8–16, zit. S. 5. Der Fotograf Peter Stähli, Gsteigwiler, dokumentierte die Entstehung der Skulptur im Verlauf des Winters 1963/1964. Vgl. Memoriav Bulletin, Nr. 21, 9/2014, S. 20. Laut Müller 2012, S. 402 (wie Anm. 1) wäre sein eigentlicher Auftrag gewesen, einen Signalturm zu bauen. Detailbeschreibung der Heureka-Maschine bei Müller 2012, S. 402 (wie Anm. 1).
  19. Zu Liebermanns Symphonie «Les échanges», Beitrag von Danuser, Claudio, in: Memoriav Bulletin 2014 (wie Anm. 18).
  20. NZ vom 13.10.1967 in Kombination mit einer Abbildung der Heureka II der Landesausstellung 1964, präsentiert als «bewundert und geächtet».
  21. Violand-Hobi 1995, S. 76–77 (wie Anm. 1); Fuchs, Miranda, «‹Kunst ist Aufruhr› – Jean Tinguely als Aktionskünstler», in: Museum Tinguely Basel. Die Sammlung. Heidelberg/Berlin 2012. S. 226 (wie Anm. 1).
  22. Hultén 1972, bei S. 339 (wie Anm. 14). Vgl. den anderslautenden Kommentar zu «1968».
  23. Details bei Müller 2012, S. 424 (wie Anm. 1); https://www.tagblatt. ch/basel/basel-stadt/der-grosse-bumm-des-jean-tinguely-undder-legendaren-kuttlebutzer-ld.1961069 (Zugriff am 20.6.2025).
  24. Das Museum Tinguely widmete 2013 eine Ausstellung der Clique der 1957 entstandenen «Kuttlebutzer»: https://www.tinguely. ch/de/ausstellungen/ausstellungen/2013/kuttlebutzer.html (Zugriff am 20.6.2025); 1985 präsentierten sich die «Kuttlebutzer» eindrücklich, aber interpretationsoffen als «Atompolizei» (Müller 2012, S. 444 [wie Anm. 1]); Vogt, Rolf: «Jeannot und die Kuttlebutzer», in: Pardey 1996, S. 69–77 (wie Anm. 4). Allg. zur Fasnacht: Violand-Hobi, 1995, S. 90–93 (wie Anm. 1), mit Tinguely im Pleitegeier-Kostüm 1988. Zu Tinguelys leidenschaftlichem Verhältnis zur Basler Fasnacht vgl. auch Julia Ris’ Brief an Calvin Tomkins (Archiv Museum Tinguely).
  25. In einem späten Interview äusserte sich Tinguely besonders ausfällig, verweigerte Antworten, beanspruchte das Recht zu «monologisieren» und sprach von «blödem Journalistenseich», vgl. Anderegg, Roger: «Ich schaue meine eigene Maschine an, und dann gehe ich nach Hause und bin ganz verwirrt», Interview mit Jean Tinguely, in: Sonntags-Zeitung, Zürich, 11.3.1990, S 19, 21.
  26. Bei Tinguely steht Merkantilismus für geldgieriges Business.
  27. Tinguely: «Parole d’artiste», in: Ausstellungskatalog 1976 des Genfer Musée d’art et d’histore, Cabinet des estampes, zit. nach Violand-Hobi 1995, S. 60 (wie Anm. 1).
  28. Siehe: https://www.tinguely.ch/de/tinguely-sammlungrestaurierung/sammlung.html?period=&material=&detail= d3a1a7c7-dad5-4635-aaa2-97a22fc667f1 (Zugriff am 20.6.2025).
  29. DVD-Auswertung von Thomas Thümena, 2011 (wie Anm. 3).
  30. Tinguely, «Die Intelligenz kolossal, das Resultat total blödsinnig», in: Basler Zeitung, 31.3.1990, zit. nach Violand-Hobi 1995, S. 156 (wie Anm. 1). Der Moskauer Altar von 1990 wurde auch im Rahmen der kantonalen Feier Freiburgs zum Jubiläum von 1991 ein weiteres Mal ausgestellt. Und 2023 wandte sich der freiburgische Bundespräsident Alain Berset mit seiner 1.-August-Fernsehund Radioansprache aus dem Freiburger Espace Jean Tinguely an die Nation und verkündete mit Bezug zum 175. Jubiläum der Schaffung des Bundesstaats vor der rotierenden Maschine, Bewegung sei zentral – Bewegung, die auch die Schweiz brauche. Im Hintergrund war das Werk Retable de l’Abondance occidentale et du Mercantilisme totalitaire des Künstlers zu sehen und zu hören. Berset vermied es, näher auf die Problematik einzugehen, die Tinguely mit dem Werk und seiner Namensgebung ansprechen wollte.
  31. In der Iswestija vom 1. Januar 1963 wurde Tinguelys Schaffen unter dem Titel «Les grimaces de la société bourgeoise» von W. Silantjew als dekadent eingestuft. Integraler Text übersetzt in Hultén 1972, S. 246 (wie Anm. 1).
  32. Wehrli, Peter K., 8.4.1990, https://www.srf.ch/play/tv/kultur-aktuell/video/jean-tinguely-in-moskau?urn=urn:srf:video:7c4a93d7- 0677-4d33-b579-59e4407a50c7 (Zugriff am 20.6.2025).
  33. Tinguely verweist auf die französischen Atomkraftwerke, befasst sich aber nicht mit ihnen, sondern mit den autoritären Realisierungsbeschlüssen.
  34. Hultén 1972, S. 331 (wie Anm. 1).
  35. Gemäss Müller 2012, S. 459 (wie Anm. 1). Am 1. August 2022 wurde diese Rede von einem als Tinguely verkleideten Redner (Niklaus Talman) nochmals vorgetragen. Freiburger Nachrichten, 26.7.2022 und https://freiburger-nachrichten.ch/story/174027/hier-das-video-von-jean-tinguelys-1augustrede-in-ueberstorf (Zugriff am 20.6.2025).
  36. Konkret beanstandet er die Installation von Toiletten am «Weg der Schweiz» entlang des Vierwaldstättersees; damit mache man den «letzten See» kaputt, der noch relativ gut beieinander sei.
  37. An anderer Stelle sprach er von 382 Millionen Autos, die mit ihren vielleicht zwei Milliarden Pneus ständig herumrasen. Tinguely, selbst Raucher während 40 Jahren, empörte sich darüber, dass es allein in den USA 400.000 Zigarettentote gibt, in: Steffen, Katharina, «In Wirklichkeit ist unser Frieden ein Krieg!», in: Tages-Anzeiger, 7.3.1989. Zit. nach Müller, 2012, S. 458 (wie Anm. 1). 1984 wandte er sich an Bundesrat Egli mit der Bitte, er soll sich bei seinen «ehrenwerten Kollegen» für die Durchführung eines Formel-1-Grand-Prix in Lausanne stark machen und dafür sorgen, dass das Publikum mit der SBB anreist (Brief vom 22.3.1985, Archiv Museum Tinguely, Inv.-Nr. 004360).
  38. Jahre später, im November 2018, wurde über eine Initiative zum Schutz der Kuhhörner abgestimmt; sie erhielt aber bloss eine Zustimmung von 45,3 Prozent.
  39. Die zunehmende Zentralisierung erklärte er etwas kryptisch mit der technischen Entwicklung der modernen Industriegesellschaft.
  40. Das schloss, wenig erstaunlich, nicht aus, dass sich Tinguely einmal einer Anordnung widersetzte und wegen Befehlsverweigerung zu zehn Tagen scharfen Arrests verurteilt wurde. 1989 bekämpfte er die Initiative zur Abschaffung der Armee (GSoA). Vgl. Burckhardt, Lukas/Bosshardt, Willi, «Mitr Tinggeli Jean, 1925, Mitr Kp IV/99», in: Pardey 1996, S. 28–29 (wie Anm. 4); Daignes 2002, S. 35 (wie Anm. 1): Tinguelys Wille, sich radikal jeglicher Bevormundung zu entziehen, sei durch die «gemütsmässige Bindung an die Armee und durch seinen Patriotismus» konterkariert worden.
  41. In der Presse äusserte er sich dazu: «Ich führe einen Schützengrabenkrieg, um die Schweiz gegen die EG zu verteidigen.»
  42. Müller 2012, S. 458 (wie Anm. 1).
  43. Tonbandaufzeichnung im Gemeindearchiv Neyruz; Transkript der Kassettenaufnahme von Frau Dr. Schuster Cordone, Vizedirektorin des Museums für Kunst und Geschichte Freiburg. Der Gemeinderat hatte ihn bereits anderthalb Jahre im Voraus eingeladen; Bild in Violand-Hobi 1995, S. 152 (wie Anm. 1). Auf der Webseite der Gemeinde Neyruz (https://www.neyruz.ch/ la-commune/jean-tinguely, Zugriff am 20.6.2025) gibt es einen kurzen Hinweis auf diese 1.-August-Feier von 1991, ferner wird festgehalten, dass 2016 der «Chemin de la Gare» in eine «Allée Jean-Tinguely» umgewandelt worden sei.
  44. Lerch, Fredi/Simmen, Andreas (Hg.), Der leergeglaubte Staat. Kulturboykott: Gegen die 700-Jahr-Feier der Schweiz. Dokumentation einer Debatte, Zürich 1991. Der Boykott opponierte auch gegen «die ritualisierte Selbstdarstellung der Schweiz»; er wurde mehrheitlich von Schriftsteller:innen der deutschen Schweiz getragen, weit weniger wurde er von der Film-Branche und von der französischen/italienischen Schweiz unterstützt. Zum Jubiläumsprogramm die Erinnerungspublikation: 1991. Das Jahr der Schweiz. Chronik des Jubiläums, Basel 1991.
  45. Der Fichenskandel brach erst nach der Dietlikoner Rede aus. Tinguely hatte aber insofern etwas Vorbehalte gegen die Jubiläums-Inszenierung, als diese die Lancierung von Utopien propagierte: «Was heisst schon Utopie? Ich bestreite das».
  46. Illustrationen 1991 einer Waadtländer Schrift, eines Plakats der Jubiläumsausgabe des Zirkus Knie, eines Festival of Switzerland in Britain, der offiziellen Wahlbroschüre des Bundes. Die Journalistin Françoise Jaunin rückte, bezogen auf Plakate, Krawatten, T-Shirts, Wein-Etiketten, Skis, Tinguelys Beiträge in die Nähe der «gadgétisation» und sprach von «Tinguelomania», Fotokopie aus Magazine, 1991, S. 3. Museums-Archiv. Später, 2014, ein Weinetikette für die Zürcher Kronenhalle (dazu mehrere Inserate in der NZZ zwischen dem 21. und 31. Oktober 2014. 1989 wurden widerrechtlich 250 Seiden-Foulards mit Tinguelys Dessins hergestellt, vgl. Basler Zeitung, 20.12.1989. Bundesrat Delamuraz wies an Tinguelys Abdankung darauf hin, dass Tinguely «stolz» den Auftrag übernommen habe, die Informationsbroschüre des Bundes für die kommenden Nationalratswahlen von 1991 künstlerisch zu gestalten. Müller 2012, S. 468 (wie Anm. 1).
  47. Weber, Victor, «Ein Zug fährt auf Kunst ab», in: Basler Zeitung, Magazin, 8.6.1991, zit. nach Müller 2012, S. 466 (wie Anm. 1).

Bildnachweis:

Abb. 1: © Museum Tinguely, Basel, Foto: Monique Jacot

Abb. 2: Museum Tinguely, Basel, Quelle: Tamedia AG

Abb. 3: Museum Tinguely, Basel, Foto: Christian Baur

Abb. 4: © Nachlass Leonardo Bezzola, Foto: Lenoardo Bezzola

Abb. 5: Museum Tinguely, Basel

Abb. 6: Museum Tinguely Basel, Quelle: Blick/Ringier AG

 

© 2025, ProLitteris, Zürich, für die reproduzierten Werke von Jean Tinguely

 

Georg Kreis hat sich als Historiker der Zeitgeschichte auf der internationalen, nationalen und lokalen Ebene mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts und insbesondere der Zeit seit 1945 beschäftigt, also mit der gesellschaftlichen Entwicklung von Tinguelys Lebensjahren.  Neben der akademischen Dozentur offizielle Abklärungsaufträge zum Staatsschutz, zur Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg, zu den schweizerischen Beziehungen mit Apartheid-Südafrika. 1995 bis 2011 Präsident der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus.

 

Dieser Beitrag erscheint im Anschluss an die Konferenz «Jean Tinguely Revisited. Kritische Re-Lektüren und neue Perspektiven», 20.–22. März 2025.

 

Keywords

Kunst und Politik

Nachkriegszeit Schweiz

Anarchismus

Radikalität

Rotozaza III

Heureka

1.-August-Rede

 

Tinguely Studies, November 2025

Wissenschaftliche Online-Zeitschrift

 

Herausgegeben von: Museum Tinguely, Basel

www.tinguely.ch

 

ISSN 3042-8858