Von knarzenden Knochen und morbiden Maschinen

Jean Tinguely, «Hippopotamus», 1991, Teerfass auf Rädern, Eisenschrott, Motorradteile, Schläuche, Flusspferdschädel, 200 × 310 × 200 cm, Museum Tinguely, Basel, Donation Niki de Saint Phalle

Es klimpert, klappert, knirscht und knarzt – aus einer schwarzen Aluminiumplatte an der Decke ragen Gestänge und Ketten in den Raum, an denen zahlreiche Alltagsgegenstände befestigt sind. Nahezu unsichtbar für die Betrachtenden werden diese von Zeit zu Zeit durch ein komplexes System aus Eisenrädern und Nockenwellen über der Platte in Bewegung versetzt und verwandeln die Objekte in lebendige Wesen, die wie panische Fische an Angelhaken nun durch die Gegend baumeln und zappeln. In Jean Tinguelys Werk Ballet des Pauvres von 1961 findet sich bereits tierisches Material in Form des abgezogenen Fells eines Fuchses sowie einer Rosshaarpeitsche (Abb. 1). Hier tanzt das Überbleibsel eines Tierkadavers neben Kleidung, Kitschobjekten aus Plastik und anderem aussortiertem Zeug als Zeichen einer Konsumgesellschaft im Überfluss. Tiere, so macht diese Installation klar, werden durch den Menschen ebenso zur konsumierten Ware einer lauten, industrialisierten Welt. Ab den 1980er Jahren verschmelzen bei Tinguely die Überreste tierischer und technischer Produkte zu cyborgartigen Wesen, deren Bewegungen und Geräusche quasi maschinell programmiert werden. Im Folgenden wird der Gebrauch von Knochen und Schädeln in Tinguelys Spätwerk untersucht und dessen materielle Hybridisierungen mit industriellen Objekten in den Blick genommen. Die kinetischen Assemblagen werden im Kontext der sogenannten Animal Art und des Gebrauchs von Knochen als Material diskutiert. Es wird die These verfolgt, dass Tinguely eine neue Spezies hervorgebracht hat, die innerhalb der Diskurse um ein Natur-Kultur-Kontinuum ausgehend von Gilles Deleuze und Félix Guattari über Donna Haraway bis Rosi Braidotti situiert ist und als posthumanes Gefüge betrachtet werden kann. Dabei stehen die folgenden zwei Fragestellungen im Zentrum des Textes: Welche Formen von Tier-Mensch-Beziehungen werden in den technoästhetischen Objekten aufgegriffen? Wie kann ein ethischer Umgang mit Werken im Museum, die aus animal und human remains bestehen, über die Erforschung der Provenienzen hinausgehen?

Von zerteilten Körpern zu Knochen und
Schädeln als Material

In den 1960er Jahren beginnt Tinguely wie zahlreiche andere Künstler:innen im Pariser Umfeld der Nouveaux Réalistes Lebenswirklichkeiten zu erforschen und Alltagsgegenstände mit plastischen Körperteilen und industriellen Elementen von Maschinen und Technik in Assemblagen zu verbinden. Dies zeigt eindeutig ein Vergleich mit der Arbeit Goldfinger der Künstlerin Alina Szapocznikow oder den verkabelten und sich auflösenden Körperteilen von Tetsumi Kudō, die etwa zur gleichen Zeit entstanden sind (Abb. 2–4). Obwohl Tinguelys Dissecting Machine (1965) bereits den Übergang seiner Arbeiten zu den sogenannten schwarzen Skulpturen markiert, folgt der maschinell bewegte und zerlegte Körper einer Schaufensterpuppe, in seinem Hautton als objet trouvé belassen innerhalb der Assemblage, noch den künstlerischen Verfahren des Nouveau Réalisme. Im Vergleich zu Kudō und Szapocznikow greift Tinguely in dadaistischer oder duchampscher Manier nach der Schaufensterpuppe als Readymade-Material und scheint nebenbei mit dem Zerlegen auch noch einmal mit seiner Lehre als Schaufensterdekorateur abzurechnen. Ebenso wie die Arbeiten der anderen beiden Künstler:innen evoziert die Dissecting Machine gleichzeitig die körperlichen sowie ökologischen Realitäten, die der Zweite Weltkrieg vom Holocaust bis Hiroshima hervorgebracht hat.1 Im Unterschied zu Kudō und Szapocznikow bringt Tinguely seine Hybridwesen aus Mensch, Tier und Maschine aber nicht nur in Bewegung. Statt wie diese oder seine Kooperationspartnerinnen Niki de Saint Phalle und Eva Aeppli mittels Kunststoffen wie auch Textilien ausschliesslich mit Surrogaten des organischen Körpers zu arbeiten, beginnt Tinguely ab den 1980er Jahren vermehrt somatisches Material in Form von Knochen und Schädeln in seine Assemblagen zu integrieren.

Abb. 1 Jean Tinguely, Ballet des Pauvres, 1961, Aluminiumplatte, Eisenräder, -transmissionen und -gestänge, Stoff, Kunststoff, Metalle, Pelze, Leder und anderes, Elektromotor, 400 × 350 × 220 cm, Museum Tinguely, Basel

Abb. 2 Jean Tinguely, Dissecting Machine, 1965, Metallteile, Schaufensterpuppe, Sägen, Drillbohrer, circa sechs Elektromotoren, alles schwarz bemalt, 185,1 × 188 × 213 cm, The Menil Collection, Houston

Abb. 3 Alina Szapocznikow, Goldfinger, 1965, Gold patinierter Zement und Autoteil, Muzeum Sztuki, Łodź

Abb. 4 Tetsumi Kudō, Love (L’Amour), 1964, Stühle, Baumwolle, Plastik, Polyester, Grafik mit elektronischen Schaltkreisen, Vinyl-Schläuche, Haar, bemalte Holzkiste, Klingeln, Tonband, 90 × 120 × 45 cm (Köpfe und Stühle), Kurashiki City Museum of Art, Okayama

Ab diesem Zeitpunkt entstehen drei verschiedene Gruppen von Arbeiten, die aus Hybridisierungen zwischen den im Titel benannten «knarzenden Knochen und morbiden Maschinen» bestehen. Die Werke, welche ab 1981 entstehen, lassen sich in drei Gruppen als Altäre, Einzelfiguren und Transportmittel kategorisieren. Ein besonderes Beispiel ist der Zyklus Mengele-Totentanz (1986), der alle drei Formen umfasst. Dieser wurde 2002 ausführlich von der Kunsthistorikerin Barbara Weyandt analysiert und 2017 durch eine dem Zyklus gewidmete Sammlungspublikation genauer kontextualisiert.2 Dabei steht meist der Auslöser, die Ikonografie des Todes und der Bezug zum Basler Totentanz, sowie Tinguelys persönliche Auseinandersetzung mit dem Tod aufgrund seiner schweren Herzoperation 1985 im Fokus.3 Zudem werden die in der Installation verwendeten Landmaschinen der Agrartechnikfirma Mengele – mit der Karl und Walburga Mengele ihren Sohn, den NS-Kriegsverbrecher Josef Mengele noch nach 1945 auf seiner Flucht in Paraguay und Brasilien unterstützten – und der dadurch aufgegriffene industrialisierte Massenmord an den europäischen Juden und weiteren Opfergruppen thematisiert.4 Wie unter einem Brennglas zeigt sich darin auch Tinguelys Kritik am Katholizismus – daran, dass der Vatikan mit dem faschistischen System Mussolinis kooperierte – sowie an der ungenügenden Aufarbeitung der NS-Zeit im deutschsprachigen Raum inklusive der Schweiz und deren Kontinuitäten bis in die Entstehungszeit des Zyklus und die heutige Gegenwart.5 Darüber hinaus, so werde ich im Folgenden zeigen, verweist die Arbeit aber auch auf ökologische Kontexte der Human-Animal Studies oder des Gebrauchs von Knochen in der zeitgenössischen Kunst.

 

Die 1986 entstandene raumfüllende Installation besteht neben dem Mengele (Hoch-Altar) mit dem Schädel eines Flusspferdes aus weiteren 17 Einzelobjekten, wie den vier Ministranten in direkter Nachbarschaft (Abb. 5). Es gibt nach Tieren benannte Skulpturen, wie Der Krebs oder Targa-Florio alias die Gottesanbeterin, die aus materiellen Hybridisierungen wie rostigen Metallteilen oder verkohltem Holz ohne tierisches Material bestehen, diese Tiere aber in der Form und Bedeutung hervorrufen sollen. Hommage Rotatif «La plume furieuse» ist eine Metallplastik, die einen Kampf zwischen Löwen und Adler neben einer Vogelfeder zeigt. Tiere werden also in ihrer Darstellung, Ikonografie und Materialität erforscht. Während der Rammbock ganz im Sinne eines männlichen Genderklischees einen prächtigen Ochsenschädel trägt, finden sich an der filigraneren Figur Des Rammbocks Fee nur die zarten Knöchlein eines Haustiers, die noch mit Stroh und Dreck behangen sind. Die Spinne und Die Sonne tragen jeweils als Kopf einen Pferde- und einen Kuhschädel. Bascule Nr. 13 besteht aus dem Kieferknochen einer Kuh, der mit einem schwarzen Textilband an einer langen Metallstange befestigt ist.

 

Dagegen akkumuliert Transmission de la mort gleich mehrere Schädel von Hunden, Kühen und einem Menschen, die hier nun anstelle von Strohballen auf dem Transportband befördert werden (Abb. 6). Da der menschliche Totenkopf ohne Unterkiefer weisser und sauberer erscheint als die anderen Schädel, ist zu vermuten, dass dieser, ebenso als Fundstück von Tinguely benutzt, zuvor intensiver präpariert wurde als andere Knochen und Schädel.6 Nahezu alle anderen Objekte des Zyklus sind teilweise verbrannt, verkohlt, verbogen oder tragen eine Patina aus Staub und Russ. Wird die Bewegungsapparatur der Installation gestartet, so vollzieht sich ein schauerliches Schattenspiel an der Wand hinter diesen, in einem Oval angeordneten Objekten, begleitet von einem gemächlichen Quietschen, das durch Mark und Bein geht. Auffallend ist, dass hier hauptsächlich die Metallteile ihrer ursprünglichen maschinellen Funktion beraubt, konzentrisch, leicht wippend oder schaukelnd bewegt werden und Kreisläufe erzeugen, die sich jeglicher Produktionslogik widersetzen. Lediglich das Fliessband des Todes hat seine Funktion beibehalten und bringt in fortlaufender Bewegung die immer gleichen Schädel hervor.

Abb. 5 Jean Tinguely, Mengele (Hoch-Altar) Mengele-Totentanz, 1986, umgeben von den vier Ministranten (Bischof, Gemütlichkeit, Schnapsflasche, Television), Teil einer Maispressmaschine der Firma Mengele (Augsburg), angebranntes Holz, Spitzenstoff, schwarzes Band, Nilpferdschädel, Eisenteile, Gummirollen, Elektromotoren, 300 × 440 × 420 cm, Museum Tinguely, Basel

Abb. 6 Jean Tinguely, Transmission de la mort (Mengele-Totentanz), 1986, Strohballentransportband, Schädel, Eisenteile, Elektromotor, 480 × 180 × 140 cm, Museum Tinguely, Basel

Abb. 7 Jean Tinguely, Hippopotamus, 1991, Teerfass auf Rädern, Eisenschrott, Motorradteile, Schläuche, Flusspferdschädel, 200 × 310 × 200 cm, Museum Tinguely, Basel, Donation Niki de Saint Phalle

Wie Tinguely ausführlich selbst berichtet hat, stammen die Materialien von Mengele-Totentanz zum grössten Teil aus dem benachbarten Bauernhaus von André Daflon in Neyruz, das am 24. August 1986 nach einem Blitzeinschlag fast komplett herunterbrannte.7 Tinguely erzählt fasziniert und abgeschreckt von dieser Zerstörungswut des Feuers, auch wie die Tiere des Hofes dabei ums Leben gekommen sind und sich die Materialien und Maschinen, wovon die Maismaschine den Namen Mengele trägt, alchemistisch veränderten:

Indessen hat sich im Stall ein Stier eingeklemmt, weil er Panik bekam. Er hatte einen grossen Stier. Dieser blockierte durch seine Panik die Türe und hat wahrscheinlich noch sieben Kälber verletzt. Dieser Stier starb mit diesen sieben Kinderkühen im Brand. […] Das Haus brannte ab. Und dann ging der Gestank los. Das hat tagelang, exakt zwei Tage und drei Nächte lang gestunken. Von diesen verbrannten Leichen. […] Diese Eisen waren nicht nur verborgen, zuerst verbrannt, aber dann bekamen sie einen Schutz, eine Art Verglasungschemikalienphänomen, das von dieser ungeheuren Menge Gras, das verbrannt war, von diesem Heu, das gab eine Ablagerung, eine chemikalische, eine chemische. Und das war so schauerlich für mich wie das, was aus den deutschen Konzentrationslagern gekommen war. Für mich war diese Karbonisierungsphänomenologie zum ersten Mal ein schreckliches Erlebnis. Ob Kuhfleisch oder Menschenfleisch verbrennt, es war dasselbe. Ich habe plötzlich diese ganze grausige Konzentrationslagerverbrennungskatastrophe wieder darin gespürt. […] Das Phänomen des Materials hat mich inspiriert. Das Grauen das darin steckte.8

In dem Brand scheint für Tinguely das individuelle Leid der Familie Daflon mit dem Leid der Tiere und dem grösseren weltgeschichtlichen Grauen des Holocausts zu amalgamieren.

 

Tierschädel und Knochen tauchen ausserhalb dieses Komplexes ab 1981 immer wieder in den drei Gruppen der Einzelfiguren, Altäre und Transportmittel auf. Bei den Einzelfiguren ist kennzeichnend, dass diese meist als Kopf zu interpretierende Tierschädel tragen und wie in der Reihe der Philosophen die Figur Platon in Aktion mit einem Wurzelstrunk und Vorderkiefer, Für Frank Lloyd Wright mit einem Krokodil-Schädel oder die Figuren Deng Xiaoping I–III (alle 1989) mit diversen Schädeln auch als Mensch bezeichnet sein können.9 Im Unterschied zu den Tieren aus Mengele-Totentanz werden La Vache Suisse (1990) oder Hippopotamus (1991), Wildsau, L’Ours oder Le Lion de Belfort (alle 1990) als die Tiere bezeichnet, aus deren Material ihre Schädel und bei letzteren die präparierten Felle mit Kopf tatsächlich auch bestehen (Abb. 7). Andere wiederum sind mit Namen von übernatürlichen Wesen aus Fabeln und Märchen betitelt, wie Die Hexen oder Schneewittchen und die Sieben Zwerge (1985). Tinguely bedient sich hier Strategien sowohl der Anthropomorphisierung, also der Vermenschlichung von seinen Tier-Maschine-Hybriden, als auch des Zoomorphismus, also der Inszenierung von Tiercharakteren. Gleichzeitig haben diese Wesen eine menschliche Erscheinung hinter sich gelassen. Ihre Körper aus Metallteilen versetzen den Schädel meist so in Bewegung, dass sich die Schädelkalotten unabhängig von den Kiefern langsam auf- und absenken. Die Mäuler dieser Figuren scheinen sich also langsam zu öffnen und zu schliessen.

 

Die Altäre sind als zweite Gruppe an dieses Montage- und Bewegungs-Prinzip angelehnt. Wie das zentrale Objekt des Mengele-Totentanz ist auch Lola T 180 – Mémorial pour Joakim B. (1988) als Altar konzipiert (Abb. 8). Hier wird das Objekt aus zwei Rennautowracks des Modells Lola, die sich wie Flügel öffnen und schliessen, ebenfalls mit einem Ochsenschädel bekrönt und es finden sich Kieferknochen von Pferd und Kuh sowie ein Antilopenhorn als Auswüchse dieses hybriden Körpers. Zwei begleitende Figuren mit Tierschädeln greifen die Symmetrie des Altars und der Ministranten wieder auf. Dieses Assemblage-Prinzip verfolgte Tinguely bereits in der Arbeit des Altars Cenodoxus von 1981. Lola T 180 geht ein tragisches Ereignis voraus und demonstriert zeitgleich Tinguelys Faszination und, so würde ich behaupten, auch Abscheu vor dem Automobil und der Rennfahrt. Schliesslich hat er nicht nur 1971 seinen Freund Jo Siffert beim Rennen von Brands Hatch verloren, sondern auch 1972 Joakim Bonnier, der beim 24-Stunden-Rennen von Le Mans in einem Lola T 280 tödlich verunglückte.10 Das Autorennen und die Materialien des Automobils werden hier in Form eines Altars in Hybridisierung mit Knochen, Schädeln und Hörnern, wie Victoria von Flemming es angelehnt an Tinguelys Bezeichnung als «blanken Wahnsinn» passend formulierte, «zur Metapher einer sich sinnlos im Kreise drehenden Gesellschaft, es wird durch die latente Allgegenwart des Todes sogar zu einer modernen Bildformel des Totentanzes».11

Abb. 8 Jean Tinguely, Lola T 180 – Mémorial pour Joakim B., 1988, zwei Lola-Chassis, Eisenteile, Aluminiumteile, Aluminiumrad, Holzrad, Tierschädel und -knochen (Pferdekieferknochen), Antilopenhorn, Gummirollen, Stahlgewichte, Kunststoffbänder, Vogelfedern, Keramiksicherungen, zwei Elektromotoren; Nebenskulpturen: Eisenteile, Tierschädel, Elektromotoren auf Holzsockeln, 387 × 500 × 200 cm (variable Breite und Tiefe), Museum Tinguely, Basel

Abb. 9 Jean Tinguely, Le Safari de La Mort Moscovite, 1989, Renault R5, Eisenschrott, Schädel, Stoff, Sense, Lampen, Elektromotor, 270 × 520 × 180 cm, Museum Tinguely, Basel, Donation Niki de Saint Phalle


Nicht ohne Grund ist die Kreisbewegung in der dritten Gruppe der Transportmittel wieder aufgegriffen. Diese reicht vom Transportband des Mengele-Totentanz bis zu Automobilen, wie der fahrbaren Skulptur Le Safari de la Mort Moscovite (1989, Abb. 9). Hier sind wiederum mehrere Tierschädel und Knochen mit dem Skelett eines Renault 5 verbunden. Ein Gefährt, das von einem imaginären Wesen mit Sense gefahren wird und dessen Vorgänger, der Renault 4 Safari von 1975, das Freiheitsversprechen suggerierte, mit diesem Auto selbst durch die entlegensten Gegenden der Welt fahren und sich dabei auf die Jagd nach Grosswild begeben zu können.12 Bei La Moto de la Mort (1989) wird ein Motorradrahmen mit Krokodilschädel zum angriffslustigen Mischwesen aus Tier und Maschine, Hornträger und Motor, Schildkröte und Tank. Erstaunlich leise klappernd, kippt der metallene Körper durch ein kreisendes Riemengetriebe wiederholend nach vorn und zurück, während das Gebiss des Tieres nicht wirklich nach Beute schnappen kann. La Fontaine de La Mort II (1989) deutet einen Mopedaufbau an, der eine Kulisse aus Plastikpflanzen und einer Rückwand mit Tier- und einem Menschenschädel, aus denen eine Wasserquelle fliesst, zu transportieren scheint (Abb. 10). Im Kunstforum von 1991 berichtet Tinguely, ohne genau zu spezifizieren, ob es sich um La Fontaine des La Mort I oder II handelt, dass dieser Totenkopf «von einer Insel, auf der Menschenfresser hausten, stammt» und dieser «50 Jahre in einem Basler Kaffeehaus» hing.13 Welches Basler Kaffeehaus damit genau gemeint sein kann, ist bisher nicht geklärt. Zu vermuten ist aber, dass dieser exotisierende Aufbau von zwei Lokalen in Basel, dem Café Tropic und dem Atlantis, inspiriert sein könnte. In den ab 1947 von den Brüdern Paul und Kurt Seiler eingerichteten Läden wurde nicht nur eine Kulisse kolonialer Vorstellungen mit Schädeln, Masken und exotischen Objekten als begehbare Dioramen installiert, sondern auch nicht heimische Tiere wie eine Python, Schildkröten und vier Alligatoren unter mehr als fragwürdigen Bedingungen gehalten.14 Krokodil Hector, das 1972 verstarb, hängt noch immer als präparierte Deko hinter Glas im heutigen Atlantis.15 Zusätzlich greift Tinguely mit seiner Aussage die koloniale und rassistische Erzählung und Figur der wilden Kannibalen auf, zu denen die indigene Gruppe der Topinambá in Südamerika im 15. Jahrhundert beispielsweise durch den Kupferstecher Theodor de Bry stilisiert wurde. Fragt sich nur, ob dieser in der Schweiz gelandete Schädel, der eines Kolonialherrn oder der einer indigenen Person ist, die durch den Verzehr ihres Fleisches entmenschlicht, also zum Tier wurde?

Abb. 10 Jean Tinguely, La Fontaine de la Mort II, 1989, Eisenplatten und -teile, Schädel, Knochen, Plastikpflanzen, Wasserbecken, Wasserpumpe und -schläuche, Elektromotor, 168 × 200 × 230 cm, Museum Tinguely, Basel, Donation Niki de Saint Phalle

Der menschliche Schädel erscheint in Tinguelys Assemblage wie der Tierschädel als Trophäe, die in einem inszenierten Gesamtensemble präsentiert wird. Einerseits erinnert diese Kulisse auch an jene Basler Erlebnisgastronomien der Nachkriegszeit, die in ihrer amerikanischen Version als Tiki bekannt wurden und in denen die Jugend im Zuge der sogenannten Wirtschaftswunderjahre den Krieg durch Feiern und Alkohol verdrängte.16 Andererseits reichen die Reminiszenzen auch weiter zurück, zu den kolonialen Schaukästen, die seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts von sogenannten Völker- und Naturkundemuseen oder in Macht demonstrierenden privaten Jagdzimmern ausgestellt wurden. Das Material der Schädel und Knochen verweist insbesondere in Kombination mit dem Automobil geradewegs zurück in die Zeit des Imperialismus und Nationalismus um 1900 bis zum Nationalsozialismus.

 

So fanden hier nicht nur die ersten Jagd-Safaris in den Kolonialgebieten statt oder wurde die heimische Jagd als nationales Hobby betrieben, wie sich an der Einrichtung des Deutschen Jagdmuseums in München 1938 oder Trophäen wie dem Hirsch Matador, den der Nationalsozialist und Kriegsverbrecher Hermann Göring 1942 erlegte, zeigt.17 Auch die Rennfahrt wurde beliebt, um nationale Stärke zu demonstrieren, was zum Beispiel an dem von Bernd Rosemeyer mit Hakenkreuz gesteuerten Silberpfeil offenbar wurde.18 Mit dem technischen Fortschritt des Automobils war es zudem möglich, umso mehr Tiere zu töten, während Panzer und anderes Grossgerät die Namen Tiger und Panther erhielten.19

 

Dass Tinguely Entwicklungen des Automobilbaus und den menschlichen Umgang mit Tieren parallel im Blick hatte, zeigt sich anhand seines «Sieben-Punkte-Forderungsprogramms» oder auch seiner politischen «Kampfansage», die er am 1. August 1991 vortrug. Darin fordert er nicht nur die paritätische Aufteilung der Sitze in den Parlamenten, sondern bemerkt nebenbei, dass die Anzahl von «318.000 neu in den Verkehr gesetzten Autos […] eine Form von Kriegszustand» erzeuge. Genauer: «Und ich glaube, wir sind jetzt ungefähr soweit, dass man sagen kann, der Frieden ist längstens Krieg, der totale Krieg, der Krieg der Konsumation.»20 Weiter: «Ich weiss schon, wer die Welt kaputtgemacht hat, nämlich die männliche technologische Wahnsinnsorganisation, die diese Männerwelt aufgestellt hat. Und es ist ganz klar, wenn jemand diese Welt retten kann, dann sind es die Frauen.»21 Zumindest ein männlicher Freund hat Tinguely bewiesen, dass seine Forderung nach einer tiergerechten Haltung umgesetzt werden kann:

[…] ich rege mich darüber auf, gerade als Freiburger, dass es in der Schweiz Kühe hat ohne Hörner. Ich möchte, dass das sofort aufhört, dass man das unterbindet, gleichzeitig mit der industriellen Züchtung von Schweinen. Die Schweinezuchtgeschichte, die wir da haben, ist eine Tragödie. Als Beispiel dazu kann ich erzählen, wie das ging bei meinem Freund […]. Bernhard Luginbühl hat wie viele andere Bauern auch ein Schwein zu sich genommen, ins Haus, zwei Schweine. Ursi Luginbühl hat die Schweine durchgefüttert, vom Frühling bis in den Herbst. Und am Schluss sind die beiden Schweine derart geliebt worden, dass natürlich niemand ans Töten gedacht hat. Speziell nicht bei Bernhard Luginbühl, der als Tierfreund bekannt ist und als Menschenfreund. Die Ursi hat die Schweine leben lassen, und ich glaube, es gibt sie noch, die haben heute AHV oder was weiss ich. Auf jeden Fall sehe ich das mit Schweinezucht eher so, wie es beim Luginbühl gegangen ist.22

Während Tinguely hier als geradezu feministisch agierender Tierfreund auftritt, bleibt sein Umgang mit tierischem Material in seiner Ambivalenz zu befragen.

Tinguelys Umgang mit tierischem Material

Der sogenannte Animal Turn in den Geistes- und Sozialwissenschaften war vor allem ab den 1990er Jahren Ausgangspunkt für eine interdisziplinäre Wende in der Betrachtung des Themas der Tier-Mensch-Beziehungen. Dabei wurden anthropozentrische Sichtweisen, die Tiere nur als Objekte der Forschung betrachtet haben, kritisch hinterfragt. Im Sinne eines posthumanen Denkens wurde der Mensch dabei ausgehend von Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie oder Donna Haraways Schriften wie dem Manifest für Gefährten von seiner Sonderstellung an der Spitze der Schöpfung enthoben.23 Tiere werden nun gleichwertig wie Menschen als soziale und kulturelle Akteure untersucht. Die Thematisierung des Eingriffes des Menschen in seine Umwelt seit der Industrialisierung durch Theoretiker:innen wie Haraway oder Rosi Braidotti hat neue Konzepte wie das «Natur-Kultur-Kontinuum» hervorgebracht. Darin werden die konstruierten Dichotomien zwischen Natur/Kultur, Tier/Mensch oder Mann/Frau aufgehoben, um die Erforschung komplexer Ökologien zu ermöglichen.24 Durch diesen Turn treten auch verstärkt Tierethik und -rechte sowie der Einfluss menschlichen Handelns auf andere Lebewesen in den Vordergrund und dieser wird vermehrt kritisch reflektiert. In der Kunst liessen sich Tier-Mensch-Beziehungen bis zu den vorchristlichen Höhlenmalereien untersuchen; seit jeher stehen Tiere im Fokus künstlerischer Auseinandersetzungen. Die Kunsthistorikerin Petra LangeBerndt hat in ihrem Buch Animal Art (2009) erstmals herausgearbeitet, dass Tiere als Material seit den 1960er Jahren einen neuen Stellenwert in der künstlerischen Praxis bekommen. Nach ihrer Darstellung mit mythischer, allegorischer, symbolischer, dokumentarischer oder wissenschaftlicher Intention kommen Tiere ab diesem Zeitpunkt vermehrt als Präparate in der Kunst vor.25 Gleichzeitig treten sie als lebende Akteure sowie später als Co- oder auch Hauptproduzenten von Kunst in der sogenannten Interspecies Art in Erscheinung, der sich insbesondere die Kunsthistorikerin Jessica Ullrich widmet.26 Ebenso aufschlussreich im Hinblick auf Tinguelys künstlerische Praxis ist die Publikation Knochen. Ein Material der zeitgenössischen Kunst (2014) von Sebastian Hackenschmidt. Gleichzeitig mit dem Einsatz der von Lange-Berndt konstatierten Animal Art verwenden zahlreiche Künstler:innen ab den 1960er  Jahren Knochen als Material. In den Arbeiten von Wolf Vostell und Joseph Beuys beschreibt Hackenschmidt Knochen als «eindeutigen Hinweis auf die unzulängliche Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit und die Verdrängung der nationalsozialistischen Todesmaschinerie in den zeitgenössischen Massenmedien».27 An diesen Punkt knüpft Tinguelys Mengele-Totentanz aus den 1980er  Jahren eindeutig an. Knochen zeigen sich demnach nicht als Material, das «generell auf den Tod verweist», sondern das historische Bezüge auf Krieg, Massenmord und Genozide sichtbar macht.28 Gleichzeitig sprechen sie die Auflösung und den Verfall des Körperlichen an. Sie stellen den Tod dar, vor dem alle Lebewesen gleich sind, und lassen sich somit auch auf Themen des grösseren ökologischen Sterbens übertragen. Im Vergleich zu Vostells Entwurf einer neuen Fahne für die Bundesrepublik Deutschland (1973), in dem ein Kieferknochen direkt der Wohlstandsgesellschaft der Nachkriegszeit mit ihrem Statussymbol Auto gegenübergestellt ist, sowie Dieter Roths oder Daniel Spoerris noch als Speiserest auszumachendem Material der Knochen, entstehen bei Tinguely mit technischem Material hybridisierte Wesen (Abb. 11).29 Diese demonstrieren durch ihre fortlaufenden Bewegungen nicht nur einen Gegenwarts- oder Vergangenheitsbericht, sondern richten auch einen Appell an die Zukunft. Sie zeigen Knochen und Schädel als Material, das nicht nur dem Verfall ausgesetzt ist, sondern in einer vom Künstler entworfenen Spezies weiterlebt, die den gewaltvollen Umgang der Menschen mit ihrer Umwelt erfahrbar macht.

Abb. 11 Wolf Vostell, Entwurf einer neuen Fahne für die Bundesrepublik Deutschland, 1973, Objektkasten, Holz, schwarz gefasst, mit Plexiglasdeckel, 202 × 134,5 × 13 cm, Inhalt: Fahnentuch (Fahnendruck s/w), schwarz gefasster Holzquerträger auf Tuch befestigt, Unterkieferknochen eines Rindes, mit Signatur, 30 Exemplare, Galerie André, Berlin

Abb. 12 Bernhard Luginbühl, Altes Schlachthaus Burgdorf; im Hintergrund Tierschädel und ein Krokodil

Passend dazu tauchen Knochen und Schädel im Werk von Tinguely von sehr verschiedenen Tieren und in unterschiedlichen Konstitutionen auf. Das Spektrum reicht von domestizierten Tieren wie Katze, Pferd und Kuh über jene, die mit Traditionen der Jagd in Verbindung stehen, wie der Fuchs, bis zu nicht-heimischen Tieren von anderen Kontinenten, wie Flusspferd oder Krokodil. Einige wenige Schädel stammen auch vom Menschen. Die meisten Objekte befinden sich bereits in einem Zustand des Verfalls, teilweise ist schon Material abgebröckelt oder es fehlen ganze Teile. Sie tragen eine Patina von Dreck, Staub oder Russ durch ihre Herkunft oder vorherige Bearbeitung oder sind nahezu unberührt, plastifiziert. Sein Material bezog Tinguely, soweit bekannt, hauptsächlich von seinem Künstlerfreund Bernhard Luginbühl, der aus einer Metzgerfamilie stammte und bei dem er regelrechte Bestellungen für Kuh- und Pferdeköpfe aufgab, die dieser zum Beispiel beim «pferdemetzger horisberger in burgdorf» beschaffte.30 Von Luginbühl erhielt er wohl auch den Flusspferdschädel aus Mengele-Totentanz. Eine Aussage aus Luginbühls Tagebuchnotizen weist darauf hin, dass der Flusspferdschädel aus Hippopotamus 1988 in Paris gekauft wurde.31 Josef Imhof, der langjährige Mitarbeiter von Tinguely, berichtet in einem Videointerview, dass sie die Schädel unter anderem für Le Safari de la Mort Moscovite von einem Monsieur Blancpain aus Fribourg erhielten, der in den 1920er Jahren als Grosswildjäger in «ferne Welten» gereist sei und gleich einen ganzen «Estrich voll dieser Trophäen» an Tinguely übergeben habe.32 Bei diesem Herrn Blancpain muss es sich um einen der Söhne Paul-Alcide Blancpains (1833–1899) handeln, der aus der Familie der Uhrenhersteller Blancpain kommend, ab 1877 in Freiburg die später so benannte Brasserie du Cardinal gründete, die schnell zum industriellen Grossbetrieb ausgebaut wurde.33 Weitere Provenienzen sind bisher nicht erforscht.34 Obwohl Luginbühl selbst fast ausschliesslich mit kinetischen Metallskulpturen arbeitete, so zeigt ein Blick in das ehemalige Schlachthaus in Burgdorf, das dieser mit Freunden ab 1985 als Ausstellungsraum betreibt, auch seine Sammlung fein säuberlich sortierter Pferdeschädel neben einem Krokodil (Abb. 12). Luginbühl beschreibt, dass solches Material in Tinguelys Atelier dagegen in einem Chaos vorzufinden war:

[…] im grossen maschinenraum stehen nun etwa fünfzig figuren rum und etwa fünfzig haufen, häufchen, skelette, teile, zerstampftes, verbranntes, uraltes, super-neues wie ein aluminiumchassis eines japanischen motorrads, das jeano hochwarf um zu demonstrieren wie leicht es sei. mein pferdeschädel lag rum, die zähne mit araldit in den kiefer geleimt, mitten im gewühl ein ausgebrannter döschwo. […] über dem ausgebrannten motorklumpen einen haufen von gazellengeweihen, Abb. 12 Bernhard Luginbühl, Altes Schlachthaus Burgdorf; im Hintergrund Tierschädel und ein Krokodil ebertotenköpfen überall lagen geweihe und im chaos drin wieder geordnetes das die unordnung noch grösser scheinen lies.35

Tierisches Material wurde demnach zu allen anderen Werkstoffen, mit denen Tinguely gearbeitet hat, gleichwertig behandelt. Er selbst unterscheidet nur den Umgang zwischen tierischem und menschlichem Material, wenn er über den Totenkopf in La Fontaine de La Mort spricht:

Mit Menschenschädeln bin ich sehr vorsichtig. In meinem Werk «Quelle des Todes» […] habe ich einen eingesetzt, aber der befindet sich in dieser künstlichen Atmosphäre mit fließendem Wasser und den bunten Lampen. Das ist bewußt kitschig. Tierschädel sind mir lieber, vor allem ganz bestimmte. Als ich mir vor kurzem in Glasgow in einem Museum ein gigantisches Arsenal an gesammelten Tierschädeln anschaute, spürte ich, wie ich mich von bestimmten angezogen, von anderen abgestoßen fühlte. Also, es fällt mir auf, daß ich Tierschädel bevorzuge, aber warum, kann ich nicht sagen. […] Der Schädel hat die Funktion, bewegt zu werden. Den Menschenschädel dagegen setze ich nicht in Bewegung, nur das Wasser spritzt aus ihm heraus.36

Der Menschenschädel auf dem Fliessband in MengeleTotentanz ist allerdings ausserhalb jeglichen Verständnisses von Kitsch installiert und widerspricht dieser Aussage. Während er in La Fontaine de la Mort I und II fast lächerlich erscheint, als wasserspendender Diener, der zur Kulisse degradiert wird. Je nachdem wie und welche Knochen und Schädel in den Arbeiten installiert sind, werden sehr unterschiedliche Bedeutungskontexte und Interpretationsmöglichkeiten offenbar.

Tinguelys Spätwerk als posthumanes Gefüge: ein Fazit

Insgesamt lässt sich konstatieren, dass Tinguelys Umgang mit dem tierischen Material nicht von einer postanthropozentrischen Position im Sinne des Animal Turn geprägt ist, da er erstens einen klaren Unterschied im Umgang mit menschlichen und nicht-menschlichen Knochen formuliert, zweitens erscheint das Material gleichwertig zu den ausrangierten Maschinenteilen mit allen anderen Werkstoffen seiner Arbeiten. Zudem zeichnet sich ein recht gewaltvoller Umgang mit dem organischen Material ab, wenn dieses gebohrt, mit Metall verschraubt oder wie Barbara Weyandt erzürnt formuliert hat, «aufgespiesst» wird, was sie «an das abschreckende Vorweisen einer Trophäe» erinnere.37 Dennoch oder gerade deswegen können wir Tinguelys Spätwerk, so argumentiere ich, als posthumanes Gefüge lesen, das sich kritisch mit dem ökologischen Handeln und Agieren des Menschen in seiner Umwelt, insbesondere seiner ambivalenten Beziehung zu Tieren und zum Tod, auseinandersetzt. Obwohl die Materialien aus heutiger Perspektive danach fordern, Tinguelys Arbeitsweise als unethisch zu stilisieren und ihre Provenienzen zu erforschen, so erscheint doch gerade der krude und grobe Umgang mit Knochen und Schädeln dieses menschliche Verhalten gegenüber anderen Lebewesen aufzuzeigen.

 

Die materielle Hybridisierung von Schädeln und Knochen mit Eisen und Metall, Tier und Maschine, zeigt sich in Tinguelys Spätwerk nicht als harmonische Verschmelzung, sondern als gewaltvoller Akt. Der Mensch als Akteur wird herausgestellt als Täter in diesem posthumanen Gefüge, in dem Natur und Kultur nicht mehr voneinander zu trennen sind. Erst durch diese Materialität der Kunst Tinguelys können wir dem ins Auge schauen, was Menschen mit der Welt gemacht haben. Sie haben den Sensenmann über die Erde fahren lassen, auch wenn dieser einem in den Werken immer wieder mit einem Augenzwinkern begegnet.

Abb. 13 Vorbereitungen für Jean Tinguelys Study for an End of the World No. 2 in der Wüste von Nevada, 1962

Die Maschinerie des Todes wird in den Arbeiten mit Knochen und Schädeln dem landwirtschaftlichen und industriellen Eingreifen des Menschen in seine Umwelt gegenübergestellt. Angefangen mit den Wirtschaftswunderjahren haben sich bis in die 1980er  Jahre der Massenkonsum und die Wegwerfgesellschaft in den westlichen Industrienationen etabliert, auch der Fleischkonsum und damit die Anhäufung von Tierschädeln und Knochen nahmen zu. «Der Krieg im Frieden der Konsumgesellschaft», wie Tinguely es nannte.38 Gleichzeitig wurde im Kalten Krieg die atomare Aufrüstung vorangetrieben. Nachdem die Atombomben in Hiroshima und Nagasaki das von Tinguely 1962 bearbeitete Thema Study for an End of the World No. 2 vorweggenommen haben, wurde dies im Jahr von Mengele-Totentanz 1986 durch den Reaktorunfall in Tschernobyl wieder umso präsenter (Abb. 13). Im selben Jahr ereignet sich am 1. November ebenso in Basel eine Umweltkatastrophe, denn durch den Brand einer Lagerhalle des Chemiekonzerns Sandoz geriet verseuchtes Löschwasser in den Rhein und löste ein Fischsterben aus. Meiner Interpretation nach verweisen die Arbeiten mit «knarzenden Knochen und morbiden Maschinen» somit auf die Frage nach der nächsten menschengemachten Katastrophe, nach der Verfallszeit von organischem und maschinellem Material angesichts des enormen Raubbaus an und der Vermüllung der Natur, nach der Produktionslogik des kapitalistischen Systems und ihren Todesopfern. Auch Tinguely als Künstler ist Teil dieses Systems, zu dem er mit seinen politischen Forderungen einerseits und seiner künstlerischen Praxis innerhalb des kapitalistischen Kunstmarkts andererseits ein sehr ambivalentes Verhältnis pflegte, was besonders durch seinen Gebrauch von tierischem Material deutlich wird. Die Arbeiten stellen uns demnach vor grössere Herausforderungen, als lediglich die Provenienzen des somatischen Materials zu erforschen und über Tinguelys Umgang mit ihnen moralisch zu urteilen.39 Gerade angesichts der gegenwärtigen politischen Weltlage fordern uns die Arbeiten dazu heraus, diese grösseren ökologischen Fragen in den Blick zu nehmen und ins Handeln zu kommen, damit die Study for an End of the World auch nur eine Studie bleibt.

  1. Die Kriegsmaschinerien des Zweiten Weltkriegs haben nicht nur menschliche Körper auf entsetzliche Weise entstellt, gewaltvoll in sie eingegriffen oder sie liquidiert, sondern dabei auch ökologische Systeme zerstört. Die Dissecting Machine verweist in ihrer Bewegung als schwarzes Ungetüm auf diese von Menschen produzierten und gesteuerten, um sich greifenden technologischen Systeme.
  2. Siehe: Weyandt, Barbara, Maschinerie des Todes. Der Mengele Totentanz von Jean Tinguely. Eine moderne Danse macabre und ihr Beitrag zur Erinnerungskultur, St. Ingbert 2002; Mengele Totentanz. Jean Tinguely, hg. v. Ahlers, Lisa Anette/Wetzel, Roland, Samml.-Kat. Museum Tinguely, Basel 2017. Siehe zudem: Tinguely. Schädel und Knochen, Ausst.-Kat. Galerie Mueller, Basel 2024.
  3. Vgl. Müller, Dominik, Jean Tinguely. Motor der Kunst, Basel 2015, S. 163–172.
  4. Vgl. Keller, Sven, Günzburg und der Fall Josef Mengele. Die Heimatstadt und die Jagd nach dem NS-Verbrecher, München 2003, S. 51–57 und 105–111; sowie: Anton, Betina, Hiding Mengele: How a Nazi Network Harbored the Angel of Death, New York 2024, S. 21.
  5. Vgl. Wetzel, Roland: «Der Mengele-Totentanz. Ein spätes Hauptwerk Jean Tinguelys», in: Mengele Totentanz. Jean Tinguely 2017, S. 16–19 (wie Anm. 2).
  6. Zuallererst muss das Fleisch vom Schädel entfernt werden; dieser wird danach abgekocht und gesäubert. Darauf können sie zum Beispiel mit Wasserstoff-Peroxid und Ammoniak behandelt und versiegelt werden, indem sie in Wasser und Holzleim eingelegt werden. Vgl. Kujawski, Olgierd E. J. Graf, Jagdtrophäen. Gewinnung, Behandlung, Bewertung, München 2005, S. 7–12.
  7. Vgl. Tinguely, Jean, «Margrit Hahnloser im Gespräch mit Jean Tinguely», in: Mengele Totentanz. Jean Tinguely 2017, S. 56–61 (wie Anm. 2).
  8. Ebd. S. 56–61, hier S. 57 und 59.
  9. Vgl. Jean Tinguely. Die Philosophen und andere Schreckgespenster, hg. v. Monika Schmela, Ausst.-Kat. Galerie Schmela, Düsseldorf 1989.
  10. Vgl. Pardey, Andres, «Jean Tinguely and the Automobile», in: Tinguely e Munari. Opere in azione, hg. v. Corà, Bruno, Ausst.-Kat. CAMeC – Centro Arte Moderna e Contemporanea, La Spezia 2004, S. 85–93.
  11. Vgl. Flemming, Victoria von, «Jean Tinguely. Vanitas und die Kunst des Ephemeren», in: Paragrana, 2018, Bd. 27, S. 75–96, hier S. 91.
  12. Vgl. Unbekannt: «Beau comme … Renault 4 Safari 1975», in: Losange Magazine, 2020, Nr. 9, https://www.losangemagazine. com/losange-magazine-nr-9-fruhjahr-2020/beau-comme-renault-4-safari-1976 (Zugriff am 20.6.2025).
  13. «Jean Tinguely: ‹Ich beschäftige mich mit dem Tod, um ihn zu bekämpfen›», ein Gespräch von Heinz-Norbert Jocks, in: Kunstforum, 1991, Nr. 115, S. 266–275, hier S. 269.
  14. Die Objekte und Tiere in den Lokalen stammten vor allem von Paul Seiler, der diese von seinen Reisen seit den 1930er Jahren auf den afrikanischen Kontinent mitbrachte. Das Café Tropic, das bis 1975 bestand, löste wohl auch das Platzproblem für seine ausufernde Sammlung und finanzierte weitere Reisen. Vgl. Krebs, Marc/Platz, Christian (Hg.), Atlantis Basel. Kult und Kultur seit 1947, Basel 2017, S. 29–49.
  15. Opiasa, Tanja, «Im Basler Atlantis lebten einst Alligatoren», in: Basler Zeitung Online, 30.11.2023, https://www.bazonline.ch/ haetten-sie-es-gewusst-im-basler-atlantis-hausten-lebendealligatoren-463065265207 (Zugriff am 20.6.2025).
  16. Vgl. Krebs/Platz 2017, S. 64 (wie Anm. 14).
  17. Vgl. Oelwein, Cornelia, Die Geschichte des deutschen Jagd- und Fischereimuseums München, Lindenberg 2016, S. 57–68; siehe auch Breitwieser, Lukas, Die Geschichte des Tourismus in Namibia: eine heterotopische Topologie der Technik, Basel 2016, S. 67–70 und 116–123.
  18. Vgl. Rinn, Gregor M., Das Automobil als nationales Identifikationssymbol, Dissertation, Institut für Geschichtswissenschaften, Philosophische Fakultät I, Humboldt-Universität zu Berlin 2008, S. 97.
  19. Vgl. Mohnhaupt, Jan, Tiere im Nationalsozialismus, München 2020, S. 119–123.
  20. Tinguely, Jean, «Eine 1.-August-Rede», in: Jean Tinguely. Was mir gefällt, Ausst.-Kat. Galerie Klaus Littmann, Basel 1991, S. 37–45, hier S. 41.
  21. Ebd., S. 37–45, hier S. 39.
  22. Ebd., hier S. 41–42.
  23. Vgl. Latour, Bruno, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt am Main 2007; ebenso: Haraway, Donna, Das Manifest für Gefährten (2003), Berlin 2016.
  24. Vgl. Braidotti, Rosi, Posthumanismus. Leben jenseits des Menschen, Frankfurt am Main 2014, S. 86.
  25. Vgl. Lange-Berndt, Petra, Animal Art. Präparierte Tiere in der Kunst, 1850–2000, München 2009.
  26. Siehe zum Beispiel: Ullrich, Jessica, «Animal Artistic Agency. Contemporary Interspecies Art and Relational Aesthetics», in: Flach, Sabine/Anker, Suzanne (Hg.), The Cultures of Entanglement. On Nonhuman Lifeforms in Contemporary Art, Bielefeld 2024, S. 149–164.
  27. Hackenschmidt, Sebastian, Knochen. Ein Material der zeitgenössischen Kunst, München 2014, S. 14.
  28. Ebd.
  29. Ebd. S. 45–57.
  30. Vgl. Luginbühl, Bernhard, JT – Tagebuchnotizen von Bernhard Luginbühl oder ein Rezept für Zwiebelfischsuppe, Nr. 2, Basel 2003, o. P. (11.mai mittwoch 1988 S20; 8.april 1988 S31).
  31. Bernhard Luginbühl über ein Gespräch mit Daniel Spoerri: «er schwärmt von jeanos neuen brandfiguren die ihn (jeano) glücklich gemacht hätten, mein nilpferdkopf sei eingebaut worden», über ein Gespräch mit Tinguely: «er hätte in paris einen nilpferdschädel gekauft mit allen zähnen für 240 fr», in: ebd. (16.oktober 1986 S507 und 4.märz freitag 1988 S44).
  32. Josef Imhof im Videointerview mit Reinhard Bek, in: Archiv-Nr. V-000440, Archiv Museum Tinguely, Min: 3’05”–4’20”.
  33. Vgl. Allenspach, Christoph, «Das Industrieareal der Brauerei Cardinal 1900–1965», in: Freiburger Geschichtsblätter 96, Freiburg 2019, S. 191–219, hier S. 191–194.
  34. Tinguely sollte eine Deckenlampe für Roger Nellens bauen, die aus der Jagdtrophäen-Sammlung von Nellens Vater assembliert wurde. Bei La Retable du Chasseur (1988) und Le Sanglier de Roger (1990) könnten die tierischen Materialien aus der Jagdtrophäensammlung des Vaters stammen. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass Tinguely bestimmte Konvolute oder einzelne Objekte von Schädeln und tierischem Material auf Flohmärkten, in Antiquariaten, bei Freunden und Bekannten begegnet sind, die er dann für seine Assemblagen verwendet hat. Vgl. ebd. (24.juni 1985 S189).
  35. Ebd. (25.august donnerstag 1988 S66).
  36. Kunstforum 1991, S. 266–275, S. 268 und 271 (wie Anm. 13).
  37. Weyandt 2002, S. 67 (wie Anm. 2).
  38. Jean Tinguely im Gespräch mit Katharina Steffen: «Gespräch mit Jean Tinguely anlässlich seiner Ausstellung im Centre Pompidou», in: Jean Tinguely. Die Philosophen und andere Schreckgespenster 1989, o. P. (wie Anm. 9).
  39. Vom Deutschen Museumsbund e.V. wurde 2017 ein «Leitfaden. Umgang mit menschlichen Überresten in Museen und Sammlungen» herausgegeben. Der Gebrauch von Knochen und Schädeln als Material der Kunst seit den 1960er Jahren wird darin nicht verhandelt. Der vorliegende Beitrag soll der weiteren Erforschung der Provenienzen von Tinguelys Material dienen und plädiert gleichzeitig dafür, das Ausstellen der Objekte und ihrer Geschichten als wissenschaftliche Praxis zu verstehen, die dazu beitragen kann.

Bildnachweis:

Abb. 1: © Museum Tinguely, Basel, Foto: Christian Baur

Abb. 2: Foto: Hickey-Robertson, Houston

Abb. 3: © Courtesy of the Estate of Alina Szapocznikow / Galerie Loevenbruck, Paris / Hauser & Wirth

Abb. 4: © 2025, ProLitteris, Zürich

Abb. 5: © Museum Tinguely, Basel, Foto: Daniel Spehr

Abb. 6: © Museum Tinguely, Basel, Foto: Daniel Spehr

Abb. 7: © Museum Tinguely, Basel, Foto: Christian Baur

Abb. 8: © Museum Tinguely, Basel, Foto: Christian Baur

Abb. 9: © Museum Tinguely, Basel, Foto: Christian Baur

Abb. 10: © Museum Tinguely, Basel, Foto: Christian Baur

Abb. 11: Museo Vostell Malpartide, Malpartida de Cáceres

Abb. 12: Museum Bernhard Luginbühl, Burgdorf, Foto: Brutus Luginbühl

Abb. 13: © LIFE Magazine, Foto: Life Magazine

 

© 2025, ProLitteris, Zürich, für die reproduzierten Werke von Jean Tinguely

© 2025, ProLitteris, Zürich, für das reproduzierte Werk von Alina Szapocznikow

© 2025, ProLitteris, Zürich, für das reproduzierte Werk von Tetsumi Kudō

 

 

Sarah Sigmund ist Kunsthistorikerin und Kuratorin. Seit 2024 arbeitet sie am Forschungszentrum für Technoästhetik an der Akademie der Bildenden Künste München. 2025 hat sie ihre Doktorarbeit zum Thema „Hybridisierungen. Transformationen des Humanen in der Kunst seit den 1920er Jahren bis in die Gegenwart“ an der Universität Hamburg abgeschlossen und arbeitet derzeit an der Veröffentlichung (erscheint 2026, edition metzel). Als Kuratorin realisierte sie zuletzt die Ausstellung Gegenwarten | Presences. Kunst Stadt Chemnitz und ist Autorin und Mitherausgeberin der gleichnamigen Publikation (2020, Verlag für moderne Kunst).

 

Dieser Beitrag erscheint im Anschluss an die Konferenz «Jean Tinguely Revisited. Kritische Re-Lektüren und neue Perspektiven», 20.–22. März 2025.

 

Keywords

Knochen

Maschine

Hybridwesen

Posthumanismus

Animal Art

 

Tinguely Studies, Dezember 2025

Wissenschaftliche Online-Zeitschrift

 

Herausgegeben von: Museum Tinguely, Basel

www.tinguely.ch

 

ISSN 3042-8858