Iwan Puni
12. April – 28. September 2003
Iwan Puni, 1892 bei St. Petersburg geboren, gilt neben Malewitsch und anderen als einer der Mitbegründer und führenden Köpfe der russischen Avantgarde. Er war Organisator und Teilnehmer der legendären futuris- tischen Ausstellungen «Tramway W» und «0,10». 1918 wurde er Lehrer an der Kunstakademie seiner Heimat- stadt, später berief ihn Chagall an seine Schule in Witebsk. 1919 spürte er als einer der ersten Avantgarde-Künstler, dass es schwierig wurde, unabhängig von der Sowjet-Propaganda zu arbeiten, und entschied sich für das Exil.
Zunächst machte er bis 1923 Station in Berlin, anschlies- send liess er sich in Paris nieder.
Die Ausstellung im Museum Tinguely ist auch eine Hommage an den Sammler und Freund Punis, Herman Berninger. Dieser lernte Iwan Puni (unter dem Namen Jean Pougny) und seine Ehefrau Xana 1952 in Paris kennen.
Nach Punis Tod im Jahre 1956 erstellte Berninger zusammen mit der Witwe den Œuvrekatalog und organisierte verschiedene Retrospektiven. Berningers unermüdlichem Einsatz für Punis Werk ist es auch zu verdanken, dass zahlreiche verloren geglaubte Arbeiten – besonders aus der russischen und Berliner Schaffenszeit – wieder entdeckt wurden.
Zu den spektakulärsten Funden zählt wohl Punis Hauptwerk, der 1922 für die «Grosse Berliner Kunstausstellung» entstandene Synthetische Musiker, den Berninger 1965 in Dänemark ausfindig machte und 1988 – zu grosszügigen Bedingungen und verbunden mit einer Schenkung dreier Stilleben aus Punis Berliner Zeit – der Berlinischen Galerie übergab. Der Synthetische Musiker und zwei der Stilleben aus dem Besitz der Berlinischen Galerie werden in Basel zu sehen sein.
Einzelne Werke aus Berningers Sammlung waren regelmässig an allen wichtigen Ausstellungen zur russischen und europäischen Avantgarde zu sehen, so im Jahre 1988 in «Die Grosse Utopie. Die russische Avantgarde 1915 – 1932», 1992 in «Transform. Bild- ObjektSkulptur im 20. Jahrhundert» oder im Jahr 2000 in «Dinge in der Kunst des 20. Jahrhunderts».
Die Ausstellung im Museum Jean Tinguely bietet nun erstmals die Gelegenheit, einen repräsentativen Quer- schnitt der Sammlung Herman Berninger mit bedeutenden Werken des russischen Avantgarde- Künstlers kennen zu lernen.
Zu sehen ist eine retrospektive Auswahl aus Punis lang- jährigem Schaffen: kubo-futuristische Stilleben, supre- matistische Kompositionen aus seiner Petersburger und Berliner Zeit, Tusch-Zeichnungen und Werke, die der Neuen Sachlichkeit nahe stehen, sowie die aus- gesprochen malerischen Arbeiten der späteren Jahre. Durch alle stilistischen Ausdrucksformen in Punis Werk zieht sich als «roter Faden» die Frage nach dem Verhältnis von Realität und Abbild: Farbfläche, plastische Form, Buchstabe, Wort und das der Alltagswelt entnommene Ding waren für ihn vom bildnerischen Aspekt her gleichbedeutend.
Im Laufe seiner künstlerischen Entwicklung empfand er die Abstraktion aber zunehmend als «Sackgasse» und kehrte zurück zum Stilleben, zu Interieurs und Strassenszenen, die er in ornamental-flächiger Struktur wiedergab.
Den Auftakt zur Ausstellung bildet ein Raum mit Werken der Pariser Jahre, also der Zeit, in der Herman Berninger Puni kennen lernte. Es folgt ein Saal mit einer Auswahl von etwa 400 Fotografien aus der Sammlung Ruth und Peter Herzog, die um 1917 in St. Petersburg entstanden sind. Sie leiten über zu zwei Sälen, die sich dem russischen Frühwerk Punis widmen.
Eine Vielzahl von historischen Dokumenten und Fotos aus der Zeit bis 1920 belegen Punis Bedeutung als führender Kopf bei einer Vielzahl wegweisender Ausstellungen. Der letzte Saal, in dem die Werke der Berliner Jahre, so der legendäre Synthetische Musiker gezeigt werden, versucht eine Hängung von drei Wänden der epochalen Präsentation von Punis Werken in Herwarth Waldens Galerie «Der Sturm» aus dem Jahr 1921 nachzuempfinden.
Die Ausstellung möchte nicht nur Herman Berninger als den über Jahrzehnte bescheiden im Hintergrund tätigen Sammler und Förderer von Iwan Punis Werk ehren, sondern unmittelbar nach der Präsentation von Jean Tinguelys Frühwerk «Jean le Jeune» die lockere Reihe von Ausstellungen fortsetzen, in denen die künstlerischen Vater-Figuren des Kinetikers vorgestellt werden.
Es sind zwar keine persönlichen Verbindungen zwischen Puni und Tinguely bekannt, der Einbezug realer Gegenstände in den abstrakten Bildraum in Werken wie Stilleben – Relief mit Hammer, 1914–21, und Relief mit Säge, 1915, mit Installationen wie in der Galerie «Der Sturm» und Aktionen wie dem Umzug kubistischer Sandwich-Figuren (anlässlich der genannten Ausstellung im Februar 1922) wirkte aber vorbildhaft auf das Denken und Schaffen zahlreicher Künstlerinnen und Künstler aus Tinguelys Generation.
Eine essentielle Bereicherung erfährt die Ausstellung durch die Leihgabe eines weitgehend unpublizierten Konvolutes von historischen Fotografien aus der Fondation Herzog in Basel.
Anlässlich der Vorbereitung und Durchführung des einjährigen Jubiläums der russischen Revolution in Petrograd entstanden, dokumentieren die Fotografien eindrücklich die Aufbruchstimmung und den Optimismus der Bevölkerung und einer Künstlergeneration, die ihr Schaffen anfangs mit Begeisterung in den Dienst der gesellschaftlichen Umwälzungen stellte.
Die in der revolutionären Dynamik des Augenblicks entstandenen Fotografien haben einerseits Reportagecharakter, andererseits ist in ihnen bereits das von Rodtschenko geforderte «neue Bild» mit ungewohnten Perspektiven wie die Auf- und Untersicht und insbesondere die Betonung der Diagonalen enthalten.
Die allgemeine Euphorie sollte nicht lange währen: Bürgerkrieg, gravierende Mängelwirtschaft und vor allem eine massive Bürokratisierung stellten auch die künstlerische Revolution in Frage. Die Kunst sollte zunehmend im Sinne der Propaganda instrumentalisiert werden.
Auch Iwan Puni, der mit seiner Frau noch 1918 mit Begeisterung an der festlichen Ausschmückung von Petrograd zu den einjährigen Revolutionsfeiern teilgenommen hatte, floh wenig später desillusioniert über Finnland nach Berlin.
Zur Ausstellung erscheint im Benteli-Verlag, Bern, ein reich illustrierter Katalog mit Beiträgen von Herman Berninger, dem anglo-amerikanischen Kunstwissenschaftler John Bowlt, den Basler Universitätsprofessoren Heiko Haumann und Andreas Guski, Peter Herzog, Guido Magnaguagno und Heinz Stahlhut.