Miriam Tinguely

14. November 2002 – 16. Februar 2003

Miriam Tinguely – gravures et aquarelles
La fille. Als Tochter von Eva Aeppli und Jean Tinguely 1950 in Basel geboren. Zog bald mit den Eltern von Jean nach Genf um, und verbrachte danach den grössten Teil ihrer Kindheit und Jugend in jenem fribourgischen Ort Bulle, das der Heimatort der Grossmutter ist. 1925, kurz nach der Geburt, war Jeannots Mutter mit ihrem Sohn in die Stadt am Rhein gekommen, wo der Vater seit 1918 als Magaziner arbeitete. Bulle – Basel – Bulle. – Der Zug, der mich zu Miriam Tinguely bringt, hält in Palézieux, Kanton Freiburg. Die Bahnhofsstimme sagt, dass ein Anschlusszug weiterfährt nach Puidoux und Chexbres. Magische Namen – der eine ist mit Marcel Duchamp verknüpft, der andere mit Ferdinand Hodler. Wir aber fahren mit dem Auto durch eine malerische Weiden- und Waldlandschaft und erreichen über seinen Rücken den Mont-Pèlerin. Und plötzlich diese Aussicht auf die Walliser Alpen und unten den Genfersee.

Miriam wohnt in einem Märchenhäuschen aus Holz, zwei Zimmer auf zwei Stockwerken. Hier arbeitet sie auch, hier aquarelliert und zeichnet sie, nur die Gravuren entstehen an der Ecole des Beaux-Arts und im Atelier Aquaforte in Lausanne. Das Häuschen steht unweit des Geländes von »Rabten Choeling«, einem Zentrum für Höhere Tibet-Studien. Die drei Hauptgebäude beher- bergen tibetanische Mönche, den Tempel und Gäste. Miriam nimmt täglich an den Übungen teil, ich begleite sie zum vorzüglichen gemeinsamen Abendessen.

Nach langen inneren und äusseren Umwegen ist sie hier angekommen. Die geografischen Kreise scheinen sich fast zu schliessen. Aber die anderen öffnen sich in die Weite, zu neuen Horizonten. Zum ersten Mal sah ich sie vor zwei Jahren bei der Eröffnung der Spoerri- Ausstellung im Museum Jean Tinguely, dann mit Jean-Sébastien, Jeans spätem Sohn, bei der Begehung des 10. Todestages des unausweichlichen Vaters, das dritte Mal an der Gedenkfeier für Niki de Saint Phalle in Paris. Immer blieb sie bescheiden, ja scheu, im Hintergrund.

Am intensivsten begegnete ich ihr aber in jenen Briefen, die das Kind aus Bulle an ihre Eltern an den Impasse Ronsin in Paris schrieb. Eva hatte einige in ihre »Lebensbücher« eingeklebt, und als ich diese dicken und grossen Lebensberichte in diesem Sommer in Honfleur durchblättern durfte, rührten mich diese Kinderbriefe sehr.

Dies muss der Ausgangspunkt dafür gewesen sein, dass die Idee einer Ausstellung mich schlagartig überfiel, als eine Einladung der Freiburger Galerie J.-J. Hofstetter ankam: Miriam Tinguely, gravure. Mit dem Titel »Les infinis soient-ils« und einer Abbildung, die mir gefiel. In der Galerie bestätigte sich der erste Eindruck: ein homogenes, zartes, feingliedriges Werk von rund vierzig Radierungen und Aquatinten. Auf dem Pèlerin erfuhr ich, dass diese Werkserie im Jahr 2000 einsetzte, unter- brochen von Aquarellen, zur Entspannung, Lockerung. Die grafischen Arbeiten füllen einen ganzen Kasten – sie sind fürs Erste abgeschlossen.

Dass Miriam das Angebot annahm, gleichzeitig mit der Ausstellung »Jean le Jeune« und also am gleichen Ort wie ihre Eltern, die sie viel zu selten sah, aufzutreten, ist keine Selbstverständlichkeit. Nach langen Jahren Amerika kam sie erst nach Jeannots Tod wieder nach Europa. Dass sie heute zu ihrer schwierigen Biografie steht und ihr Künstlersein auch öffentlich lebt, weist auf ein wiedergefundenes, inneres Zentrum hin. Gerade auch diese Werkpräsentation und dieser (zweite) Katalog bedeuten einen entscheidenden Schritt. Über den Hinduismus hat sie zum Buddhismus gefunden und damit zu ihrer Mitte.

In dieser Mitte nimmt die Kunst einen zentralen Platz ein. Ein Strahlen blitzt auf, als sie erzählt, dass sie in Bulle die alten Spielsachen ihres Vaters angetroffen habe und sie damit aufgewachsen sei. Und damit Künstlerin wurde? Schon der 1945 geborene Sohn von Eva Aeppli, Felix Leu, den sie wie Jean-Sébastien zärtlich »meinen Bruder« nennt, durfte mit von Jean gebastelten, beweg- lichen Wundermaschinen spielen. Ob vom fünf Jahre älteren Felix auch für Miriam etwas aufgehoben worden war? Jedenfalls hat das Mädchen immer gezeichnet und gemalt, und die junge Frau wurde vor allem von ihrer Mutter Eva, so schwierig ihre Beziehung auch immer war, in diesem Künstlerin-Sein unterstützt.

So entfernt thematisch und mental Miriams Bildwelt von ihrer Mutter auch sein mag, sie ist ihr weit verwandter als Jeans fröhliche und tiefsinnige Maschinenkunst. Es ist die unsichtbare Textur, das heimliche Gewebe, das Mutter und Tochters Bildsprache verbindet, das Linien- geflecht, die Massierung der Striche. Hinter der vorder- gründigen Abstraktion tauchen in Miriams Visionen jene Menschenbilder (zwischen Engelszungen und Todes- ahnung) auf, die, auch wenn sie mit Händen und Füssen bis zum Rand, bis zum Existenzrand ausgefranst sein mögen, die Leidenslandschaft von Evas Menschen- wesen evozieren.

Vielleicht ist man sich näher als man meint, auch wenn die Orte der Existenz sehr verschieden sind und das Schweigen gross.

Kurzbiografie

1950
Miriam Tinguely wird als Tochter von Eva Aeppli und Jean Tinguely in Basel geboren

1978
Zieht nach San Francisco und lebt bis 1998 in den USA, erste grosse Gemälde

1998
Rückkehr in die Schweiz, lebt heute auf dem Mont-Pélerin (VD)

2000
Lernt Pierre Keller kennen, der sie in die Technik der Radierung einführt

2001
Beginn der Arbeit im Atelier Aquaforte von Monique Lazega in Lausanne

Einzelausstellungen
1982 A.R.E. San Francisco, CA, USA
1983 Southern Exposure Gallery, San Francisco,
CA, USA
1984 San Francisco Museum of Modern Art,
Rental Gallery, CA, USA
1987 Galerie des Bastions, Genf, Schweiz
1987 Galerie Samy Kinge, Paris, Frankreich
1989 Gallery of the Zodiac, Omaha, Nebraska, USA
1989 Galerie Lendl, Graz, Österreich
1989 Centre Culturel Suisse, Paris, Frankreich
1989 Galerie Samy Kinge, Paris, Frankreich
1990 Freitagsgalerie, Solothurn, Schweiz
1990 Centre d'Art de Flaine, Cluses, Frankreich
1991 Galerie Rivolta, Lausanne, Schweiz
1996 Galerie J.-J. Hofstetter, Fribourg, Schweiz
1999 Galerie Kornfeld, Bern, Schweiz
1999 Galerie Samy Kinge, Paris, Frankreich
1999 Espace Jean Tinguely - Niki de Saint Phalle,
Fribourg, Schweiz
2002 Galerie Nelly L'Eplattenier, Lausanne, Schweiz
2002 Galerie J.-J. Hofstetter, Fribourg, Schweiz

Gruppenausstellungen
1987 AAO Gallery, Buffalo New York, USA
1987 Bannaker Gallery, Walnut Creek, CA, USA
1987 Galerie des Bastions, Genf, Schweiz
1988 Galerie des Bastions, Genf, Schweiz
1988 Berkeley Art Center, Berkeley, CA, USA
2001 Centre d'Art d'Yverdon, Yverdon, Schweiz
2002 Galerie de Rue, J. und A. Basler, Schweiz