Mannheim

Die Kunsthalle Mannheim beherbergt seit 1997 die Tinguely Maschinen-Skulptur Hong-Kong (1963) als Dauerleihgabe ihres Förderkreises. Dies, und der Schwerpunkt auf der Skulptur, der die Kunsthalle auszeichnet, bewog den Direktor Manfred Fath, zusammen mit seinen Mitarbeiter*innen im Oktober 2002 die Ausstellung Jean Tinguely, Stillstand gibt es nicht umzusetzen. Das war erst die zweite Retrospektive nach dem Tod des Künstlers (1991) ausserhalb des 1996 eröffneten Museum Tinguely.

Manfred Fath schreibt im gleichnamigen Katalog treffend über Tinguely als Mensch und Künstler:

«Es gibt niemanden, der Tinguely persönlich begegnete und der sich der Faszination seiner außergewöhnlichen Persönlichkeit entziehen konnte. Er sprühte vor geistiger und körperlicher Vitalität und verstand es sehr gut, diese auf andere zu übertragen, was nicht zuletzt die vielen Projekte belegen, die er initiierte und in Kooperation mit Künstlerfreunden Wirklichkeit werden ließ. Pontus Hultén, einer der besten Kenner des Werkes von Tinguely und einer seiner engsten Freunde, bezeichnete ihn als »brillant«. Ich selbst bin Tinguely mehrfach begegnet, zum ersten Mal 1969, und war jedes Mal fasziniert von seinem wachen Verstand, seiner Intelligenz, seinem Charme, seinem Humor, seiner Spontaneität und seiner Schlagfertigkeit. Meist war er sehr liebenswürdig, konnte aber auch sehr wütend werden und dann vor Zorn brüllen. Tinguely reagierte in vielen seiner Handlungen sehr spontan. Er war ein unruhiger, wacher Geist und schien ständig von einer inneren Unruhe angetrieben, die ihn unablässig in Bewegung hielt. Er steckte immer voller Ideen und Projekte und mit seinem großen Organisationstalent gelang es ihm, selbst monumentalste Werke zu realisieren. Meist plante er sie sehr sorgfältig, oft entsprach das Ergebnis aber nicht seiner Planung. Man konnte sich Tinguely eigentlich nicht völlig entspannt vorstellen. Sein langjähriger Freund Bernhard Luginbühl sagte dazu: ‘Diese Hetzerei und dieser Charakter, einmal so und einmal so, nie aufhalten, und immer auf dem Sprung. Immer wenn es gemütlich wurde, haute er ab.’

Über viele Jahre war er nicht nur persönlich auf das Engste mit Niki de Saint Phalle verbunden. Viele bedeutende Werke sind in kongenialer Zusammenarbeit der beiden entstanden. «Unsere Beziehung war immer konfrontativ, wir waren ein Team, in dem einer den anderen stimulierte.» Die erste gemeinsame Arbeit mit Niki de Saint Phalle, an der noch der schwedische Künstler Per Olof Ultvedt mitwirkte, war Hon, eine auf dem Rücken liegende 24 Meter lange bunte Nana, die 1966 auf Initiative von Hultén für die Eingangshalle des Moderna Museet in Stockholm geschaffen wurde. Tinguely war der Hauptkonstrukteur des Projektes. Für den französischen Pavillon der Weltausstellung in Montréal hatten Tinguely und Niki de Saint Phalle den Auftrag erhalten, den Dachgarten zu gestalten, für den sie Le Paradis fantastique schufen (heute in Stockholm). In diesem Ensemble bilden die bunten Polyesterfiguren Niki de Saint Phalles mit den Maschinen Tinguelys eine ‘dynamisch-bunte Märchenwelt’. Die Arbeiten der beiden Künstler stehen in einem deutlichen Gegensatz zueinander: Die Maschinen Tinguelys scheinen die Nanas regelrecht zu attackieren. 1983 gestalteten Tinguely und Niki auf Anregung von Pierre Boulez einen Brunnen neben dem Centre Pompidou, eine Huldigung an lgor Stravinsky, bei der die schwarzen Stahlplastiken Tinguelys mit den farbigen Figuren von Niki de Saint Phalle eine wunderbare Symbiose bilden. Die Zusammenarbeit zwischen Niki und Jean beschränkte sich aber nicht nur auf gemeinsame Projekte. Tinguely half Niki auch nach ihrer Trennung weiterhin bei der Realisierung grosser Projekte, wie dem Golem in Jerusalem oder ihrem Tarot-Garten.

Mit Bernhard Luginbühl war Tinguely über viele Jahre auf das Engste freundschaftlich verbunden. Aus ihrer Zusammenarbeit ist eine Reihe bemerkenswerter Werke hervorgegangen. Tiluzi oder das Gigantoleum, bei dem es sich um eine Kulturstation für Bern handeln sollte, wie sie Tinguely immer wieder vorschwebte, wurden hingegen nicht realisiert. Gemeinsam mit Niki de Saint Phalle, Luginbühl und Spoerri schuf Tinguely 1977 für das Centre Pompidou das Crocrodrome, ein Spasshaus aus Alteisen von etwa 46 Metern Länge, das wie viele Werke des Künstlers nach dem Ende der Ausstellung zerstört wurde. Das größte Gemeinschaftsprojekt, an dem Luginbühl maßgeblich beteiligt war, ist Tinguelys ehrgeizigstes Projekt, Der Kopf, der im Wald bei Milly-la-Fôret 1970-1991 entstand. Mit ihm verwirklichte sich Tinguely einen lang gehegten Traum: eine gigantische Plastik, die bis zu den Wipfeln der umgebenden Bäume reicht und von einem Eisenbahnwaggon bekrönt wird.


Tinguely bemühte sich zeitlebens, seine künstlerischen Mittel zu erneuern und zu erweitern. Er war eine schillernde Persönlichkeit, ständig von innerer Unrast beherrscht und immer sprühend vor Ideen. Von der Mitte der 1950er Jahre bis zu seinem Tod 1991 schuf er ein Werk, das zu den bedeutendsten künstlerischen Beiträgen des 20. Jahrhundert gehört.»