Niki de Saint Phalle

26. September 2001 – 17. Februar 2002

Werke von 1952 – 2001
aus der Schenkung Niki de Saint Phalle an das Sprengel Museum Hannover
Über den Jahreswechsel zeigt das Museum Jean Tinguely eine Ausstellung zum Werk der Künstlerin, die für Tinguely in mehrfacher Hinsicht von grosser Bedeutung war: Niki de Saint Phalle.

Die beiden lernten sich 1956 in Paris kennen und lebten seit 1960 zusammen, zuerst in Tinguelys Wohnatelier in der Pariser Impasse Ronsin, dann ab 1963 in der ehemaligen Auberge "Le Cheval Blanc" in Soisy-sur- Ecole. 1971 heiratete das Paar. Doch die beiden verband nicht nur eine Lebens-, sondern auch eine intensive, gleichberechtigte Arbeitsgemeinschaft, unter- einander und mit anderen Künstlern.

Beide waren wechselseitig an den Arbeiten und Aktionen des Partners wie auch an gemeinsamen Projekten beteiligt: Niki de Saint Phalle arbeitete sowohl 1962 an Tinguelys Aktionen mit selbstzerstörenden Maschinen in Louisiana Museum, Humlebaek und in der Wüste von Nevada mit; Tinguely wiederum trug neben Per Olof Ultvedt entscheidend zur Entstehung von Niki de Saint Phalles monumentaler Frauenfigur Hon 1966 im Moderna Museet, Stockholm, oder ihres Tarot-Gartens in der Toskana bei.

Gemeinsam schufen beide u.a. das Paradis fantastique für den französischen Pavillon der Weltausstellung in Montréal 1967 und im Auftrag Pierre Boulez' den 1983 eingeweihten Stravinsky-Brunnen in Paris.

Ganz dem demokratischen Geist der Zeit verpflichtet, arbeiteten beide auch häufig mit anderen Künstlern an grossen Projekten, so mit Robert Rauschenberg, Martial Raysse, Daniel Spoerri, Per Olof Ultvedt und Ad Petersen an der revolutionären Ausstellung Dylaby 1962 im Stedelijk Museum, Amsterdam. Das ambitionierteste Werk stellt wohl die 1969 begonnene Riesenplastik Le Cyclop im Wald von Milly-la-Forêt dar, an dem beide mit Eva Aeppli, Bernhard Luginbühl, Larry Rivers, Daniel Spoerri, Josef Imhof, Rico Weber und anderen bis zur Einweihung 1987 intensiv beteiligt waren.

Als Verwalterin von Tinguelys künstlerischem Nachlass trug Niki de Saint Phalle nach dessen Tod Sorge für die Werke des Künstlers und initiierte die Gründung des Museum Jean Tinguely mit einer grossen Schenkung.

Die Ausstellung in der grossen Halle des Museums präsentiert einen umfangreichen Teil der Schenkung Niki de Saint Phalles an das Sprengel Museum Hannover. Dabei liegt der Schwerpunkt auf dem wenig bekannten, frühen Werk: In ihre grossformatigen Ölgemälde, die in Motivik (Porträts, Familienszenen, Landschaften), Farbig- keit und Stil gleichermassen an Werke von Henri Matisse und Pierre Bonnard wie der Art Brut erinnern, bringt die Künstlerin ab der Mitte der 1950er Jahre zunehmend kleine Fundstücke, wie Kaffeebohnen, Reissnägel, zerbrochenes Geschirr etc. ein und vollzieht so in ihrem Schaffen den Schritt zur Assemblage. Mehrere umfang- reiche Werkgruppen veranschaulichen in der Aus- stellung diese Schaffensphase. In manchen dieser Assemblagen verteilt die Künstlerin ähnliche Objekte gleichmässig über die Bildfläche und schafft so an abstrakte Kunst erinnernde Strukturfelder; in anderen konfrontiert sie auf kleinstem Raum unterschiedlichste Objekte zu überraschenden und narrativen Collagen.

Immer wieder scheinen schon in diesen frühen Arbeiten Motive und Strukturmerkmale auf, die beherrschend für spätere Werkkomplexe sind: Füllige, weibliche Figuren, Drachen, grossflächige, nebeneinander gesetzte Farb- felder oder das Spiel mit Figur, Kontur und Grund; die häufig vorkommenden Werkzeuge der Aggression, wie (Spielzeug)Pistolen, Messer und Beile scheinen voraus- zuweisen auf die Phase der spektakulären "Schiess- bilder" (Tirs), in denen die Künstlerin unter ironischem Bezug auf die gestisch abstrakte Malerei die Grenzen des herkömmlichen Kunstobjekts verlässt, seine Herstellung als öffentlichen Akt inszeniert, den sie an andere Personen und den Zufall delegiert.

Aus den teilweise dreidimensionalen "Tirs" entwickelt sich in der Folge die Werkgruppe der "Bräute", die – besetzt mit einer Vielzahl von Objekten – nach den aggressiven Schiessaktionen die weibliche Fähigkeit des Gebärens feiern. Von den "Bräuten", die in der Ausstellung in einer repräsentativen Auswahl gezeigt werden können, führt ein direkter Weg zu den – an prähistorische Fruchtbarkeitsidole erinnernden – "Nanas" mit ihren stilisierten, schönlinigen Formen und ihrer farbenfrohen Fassung. Die Gruppe vor allem früher "Nanas" bildet ein geheimes Zentrum der Ausstellung, von dem aus der Besucher über Dokumentationen zu den grossen, öffentlichen Arbeiten wie Golem, Tarot-Garten oder Noah's Arch zu den jüngsten Arbeiten, einer Gruppe imposanter "Totems" geführt wird, die für den heutigen Wohnsitz Niki de Saint Phalles bei San Diego (Californien) geschaffen wurden.

Ein weiterer Ausstellungsteil mit ausgewählten Zeich- nungen der Künstlerin und einigen ihrer Collabora- tionen mit Jean Tinguely im 2. Obergeschoss rundet die Präsentation eines Werkes ab, dessen ursprüngliche, märchenhafte Naivität utopische Lebensfülle und nie versiegende Lebenskraft verströmt.

Katalog
Zur Ausstellung liegt ein im Hatje Cantz Verlag publi- zierter, umfangreicher Katalog (370 Seiten, mit vielen farbigen, ganzseitigen Abbildungen) und einer Ein- leitung von Ulrich Krempel sowie einem Interview mit der Künstlerin vor. Er basiert auf der vom Sprengel Museum Hannover mit dem Hatje Cantz Verlag herausgegebenen Dokumentation der Schenkung. Dieser Katalog ist für die Ausstellung im Museum Jean Tinguely leicht verändert und ergänzt worden.

Zur Ausstellungs-Eröffnung im Museum Jean Tinguely erscheinen zudem eine Monographie "Niki de Saint Phalle" (englisch/französisch/deutsch) sowie der 1. Teil des Werkverzeichnisses (französisch/ englisch) mit den Bildern und Reliefs, herausgegeben von Editions Acatos Lausanne / Benteli Verlag Bern.


Kurzbiographie

1930 – 1937
geboren am 29. Oktober 1930 in Paris als Tochter des französischen Bankiers Comte de Saint Phalle. Niki wohnt bei den Grosseltern väterlicherseits, bei den Grosseltern der Mutter auf Schloss Filerval, in Green- wich, Connecticut und in New York. Aufnahme in die Schule des Klosters Sacré-Coeur in New York.

1937 – 1947
Häufige Schul- und damit verbundene Ortswechsel wegen rebellischem Verhalten. Abschluss an der Old Field School, Maryland.

1948 – 1955
Heirat mit dem amerikanischen Schriftsteller Harry Mathews. Modelltätigkeit für "Vogue", "Life", "Harper's Bazaar". 1951 Geburt der Tochter Laura. Übersiedlung nach Paris. Nach einem psychischen Zusammenbruch 1953 erste Zeichnungen und Bilder. Reisen nach Spanien und Italien. 1955 Geburt des Sohnes Philip.

1956 – 1965
Erste Einzelausstellung ihrer Gipsreliefs und Assem- blagen in St. Gallen. 1960 Scheidung von Harry Mathews. Lebensgemeinschaft mit Jean Tinguely und erste Schiessbilder (Tirs). 1961 Teilnahme an den Ausstellungen der "Nouveaux Réalistes" in Paris und Nizza sowie an der Ausstellung "Art of Assemblage" im Museum of Modern Art in New York. 1962 erste Einzelausstellung in New York. Arbeit am DYLABY (Dynamisches Labyrinth) mit Raysse, Rauschenberg, Spoerri, Tinguely und Ultved für das Stedelijk Museum in Amsterdam. 1963 Umzug nach Paris, Beteiligung am zweiten "Festival du Nouveau Réalisme" in der Neuen Galerie im Künstlerhaus München. 1964 – 1965 Ausstellungen in London, Brüssel, Genf, Paris und New York, wo die ersten Nanas in der "Galerie Iolas" gezeigt werden.

1966 – 1969
Riesennana "Hon – en katedral" (Sie – eine Kathedrale) mit Jean Tinguely und Per Olof Ultvedt für das Moderna Museet in Stockholm. Kostümentwürfe für "Lysistrata" im Stadttheater Kassel. 1967 Entwurf und Herstellung des "Paradis Fantastique" mit Tinguely für den französischen Pavillon auf der EXPO in Montreal. 1968 Teilnahme an der Ausstellung "Dada, Surrealism and Heritage" im Museum of Modern Art in New York. In Zusammenarbeit mit Rainer von Diez entsteht das Theaterstück "Ich" für das Stadttheater Kassel. 1969 Retrospektiven in Hannover, Luzern, Ludwigshafen.

1970 – 1974
Ausstellung eines Nana-Ensembles in den Hallen von Paris. Schiessaktion bei einem Festival anlässlich des 10. Jahrestages der Gruppe "Nouveaux Réalistes" in Mailand. 1972 Bau des "Golem", eines Monstrum- Hauses mit drei Rutschbahnen für einen Kindergarten in Jerusalem. Idee, Buch und Regie zum Film "Daddy" mit Peter Whitehead und Rainer von Diez. 1973 – 1974 Installation von drei monumentalen Nanas in Hannover. Idee zum "Giardino dei Tarocchi" (Garten des Tarot).

1975 – 1990
Idee, Buch und Regie zum Film "Camélia et le Dragon" mit Jean Tinguely, Eva Aeppli, Bernhard Luginbühl und Daniel Spoerri. Grosse Einzelausstellungen, u. a. im Centre Pompidou in Paris, wo sie 1983 mit Tinguely den "Stravinsky-Brunnen" realisiert. 1989 Arbeit an Tinguelys Lebens- und Meisterwerk "Fontaine Château-Chinon". Grossplastiken wie "Sun God" in San Diego (1983) und der Riesenvogel "L'Oiseau" (1990).

1991 – 2002
1991 stirbt Jean Tinguely. Niki beginnt mit der Konstruktion kinetischer Skulpturen, den "Meta- Tinguelys". 1993 fertigt sie für das Olympiamuseum in Lausanne die Plastik "Les Footballeurs". 1996 Fertig- stellung des "Giardino dei Tarocchi" (Garten des Tarot) in Garavicchio in der Toskana. Seit 1994 lebt Niki de Saint Phalle in San Diego, Kalifornien, wo sie an neuen Projekten im öffentlichen Raum arbeitet.

Niki de Saint Phalle stirbt am 21. Mai 2002 in San Diego.