Das Grosse Stilleben – Le petit Grand Magasin
Ein Ausstellungsprojekt von Littmann Kulturprojekte und dem Museum Tinguely

18. Mai – 22. August 2004

Die Geschichte des Kolonialwarenladens der Geschwister Dabadie im südwestfranzösischen Mugron endet, als die Frauen des Dorfes im Dunstkreis der Gleichberechtigung anfingen Auto zu fahren. Zwar dauert es noch eine Weile, bis die Pariser Mai-Revolution von 1968 und ihre Inhalte in der Provinz eher weniger schwungvoll eindüsen. Und sicher dauert es noch eine Weile, bis die Frauen im Einzugsgebiet von Dabadies Laden tatsächlich ihre Fahrausweise in den Handtaschen haben. Aber immer regelmässiger fahren sie mit ihren Renaults und Citroens auf der einzigen Hauptstrasse von Mugron am Laden der Geschwister vorbei, beschleunigen noch bevor das Dorf ausfranst und halten ein paar Kilometer später dort, wo einst Kühe weideten und Weizen wuchs. Dort, wo gerade eine zusätzliche Facette des Endes der Dabadies neu eröffnet hat: die Mammouths und die Geant Casinos. Mitte der 1970er-Jahre ist der Laden in Mugron Vergangenheit.

Mugron ist eines jener Dörfer, in dem praktisch nur die Alten geblieben sind. Was einigermassen jung ist und ein wenig bei Verstand geht nach Biarritz oder Bordeaux. Oder gleich nach Paris. Mugron ist beschaulich, unaufgeregt, und man kann zu guten Preisen jene Häuser kaufen, die Einheimische nicht mehr wollen und in denen Pariser, die weder arm noch reich sind und die die Aufgeregtheit von Biarritz nicht mögen, etwas wohlriechende Sommerfrische suchen. Peter Knapp ist so einer, Graphiker, Fotograf, Künstler. Ein guter Freund von mir.
Dabadie passt auf Knapps Haus auf, wenn Peter nicht da ist. Man sieht sich jeweils zweimal, am Anfang des Aufenthalts und am Ende, beide Male mit viel Pastis, beim Abschied noch mit einem kurzen Besuch des Ladens. So erzählt Peter letzten Mai am Telefon:

"Was für ein Laden?", frage ich.

"Na der, der seit fast 30 Jahren geschlossen ist."

"Was gibt’s zu sehen in einem Laden, der seit 30 Jahren geschlossen ist, Peter?"

"Alles. Es ist alles noch da, unverändert. Und sogar sauber, weil Jeannine Dabadie immer wieder mal geputzt hat.“

Das wollte ich sehen, natürlich. Und nun muss ich, bevor wir mit der Geschichte fortfahren, zwei Dinge kurz erwähnen, oder eher drei, vier: 1990 stellte ich, damals noch in der Galerie, eine Installation von Guillaume Bijl aus, sie hiess "Neuer Supermarkt" und war die täuschend echte Nachbildung eines Supermarktes. So echt, dass es nicht immer leicht war, die Leute davon zu überzeugen, dass es hier um eine Installation ging, die eben gerade darauf abzielte, das Gewohnte in einen aussergewöhnlichen Kontext zu stellen und somit Wahrnehmungs- und sichtweisen zu verändern. 12 Jahre später war ich mit Guillaume in Frankfurt. Es ging um die Ausstellung „Shopping – 100 Jahre Kunst und Konsum“ in der Schirn Kunsthalle. Bijls Supermarkt sollte dabei sein. In der Ausstellung stiess ich auf Andy Warhols zwei berühmte Zitate zum Themenkreis der Warenhäuser: „Schliess heute ein Warenhaus zu, öffne die Tür nach 100 Jahren, und du hast ein Museum moderner Kunst.“ (AW 1985). „Warenhäuser werden zu Museen, Museen werden zu Warenhäusern.“ (AW)

Als ich mit Peter Knapp in diesem Laden stand, dauerte es eine Weile, bis mir Warhols Zitate in den Sinn kamen. Ich war einfach hingerissen und überwältigt: dass es so etwas überhaupt noch gibt. Der in einer andern Epoche geschlossene Laden war das perfekte "Museum der Moderne", eine Hieroglyphe der Alltagskultur, eine Timebox, ein Arsenal der Erinnerungen, eine Metapher auf die Massenproduktion - ich war nur schwer zu bremsen.
Die erste Idee war, den Laden an Ort und Stelle wieder zu eröffnen, zusammen mit den Dabadies und als Ausstellung. Aber wie? Ich hatte keine Ahnung, wie in der französischen Provinz eine Ausstellung zu realisieren ist, wie Medienkontakte herzustellen sind. Und mein Französisch ist auch nicht das beste. Ich fuhr mit Peter Knapp nach Bayonne ins Musée Bonnard und erzählte dem Direktor so gut es ging die Geschichte. Ich stiess auf Begeisterung, er sprach davon, den Laden in sein Programm aufzunehmen, ihn mit Shuttlebussen mit dem Museum zu verbinden.
Ich würde noch einen Katalog anfertigen, und letzten Herbst hätte es losgehen können. Doch Dabadie hatte mich falsch verstanden. Oder ich ihn. Er wurde plötzlich von der Angst geplagt, dass die Leute im Dorf meinen könnten, der Laden sei wieder offen, und dann gäbe es Gerede, und das wolle er nicht. Das war’s fürs erste. Idee geschlossen.

Einen Tag später sass ich bei Dabadie im Wohnzimmer, Peter war auch da, ausnahmsweise beim Frühstück, als ich dem Ladenbesitzer auf Verdacht hin meine neuste Überlegung unterbreitete: den Verkauf des Ladens. Er sagte, er wolle es sich überlegen. Auf dem Nachhauseweg ins Nachbarshaus zu Peter fragte ich ihn, wieviel solch ein Laden wohl kosten könnte: "Der kann alles kosten, weil es ein ideeller Wert ist.”

Für den Fall, dass Dabadie verkaufen würde, hatte ich präzise Vorstellungen, was mit dem Laden geschehen soll. Ich würde ihn nach dem „Duchamps-Prinzip“ aus seinem Kontext loslösen und so neue Sicht- und Wahrnehmungsweisen provozieren. Nur dass es sich nicht wie bei Marcel Duchamps um ein einzelnes Objekt handeln würde, sondern um einen ganzen Laden. Der neue Kontext für den Supermarché sollte ein musealer sein. Dass es das Tinguely-Museum sein müsste, war mir sofort klar. Bevor Tinguely zum Eisenplastiker und Erschaffer grosser Welten wurde, war er Schaufenster-Dekorateur, hatte eine Lehre beim Globus in Basel gemacht. Und Präsentationsästhetik war und ist heute ein wesentliches Element im Supermarktbusiness. Von daher passte dies.
Der Preis war so, dass ich nicht Mut verlor, das Projekt weiter zu verfolgen. Wie sich später herausstellte, war es just jene Summe, die er zuletzt in den Laden investiert hatte, für Regale. Aber jetzt hatte ich ein Problem. Ich hatte einen Laden gekauft, ohne das Geld dafür zu haben. Bei einem Mittagessen traf ich Guido Magnaguagno, den Direktor des Tinguely-Museums, und er signalisierte mir, dass er "Das grosse Stilleben" ein grossartige Idee fand, sie ideal ergänzend zur Kurt Schwitters-Ausstellung passen würde und dass er das Projekt gerne mit mir realisieren würde. Und zwar parallel zur Schwitters-Ausstellung mit dem Merzbau. Jetzt hatte ich nicht nur wieder ein Problem, sondern war auch unter Zugzwang.
Es ist klar, wie die Geschichte ausgegangen ist: Der Laden steht hier im Tinguely Museum, es ist Mitte Mai 2004. Mit dem üblichen Aufwand fand ich einen privaten „Ermöglicher“. Im Herbst fuhr ich zusammen mit Jerome Szeemann und einigen Freunden und Helfern nach Mugron, um den Laden einzupacken und nach Basel zu bringen. Als wir eines Morgens die Hauptstrasse runterfuhren, vor Dabadies Laden hielten, um die letzten Objekte zu verpacken, stand plötzlich eine alte Frau in Pantoffeln da, eine Russin, die über einen französischen Offizier in Mugron gelandet und hängen geblieben ist. Ob sie diesen Topf haben dürfte, fragte sie, und zeigte auf etwas. Sie hätte noch die passenden Tassen, aber der Topf, tja. Sie nahm ihn und kam kurz darauf mit einer Schachtel Pralinen als Dankeschön. Das war eine der letzten Geschichten aus Mugron.
Ich hoffe, der Laden, das "Grosse Stilleben" wird weiter Geschichten schreiben, hier in Basel und wo immer ihn seine Wanderschaft auf dieser Welt danach hinführt.

Klaus Littmann