Maria Netter. Kunstkritikerin und Fotografin
28. Oktober 2015 – 7. Februar 2016
Das Museum Tinguely zeigt im Zusammenhang mit der neu erschienenen Publikation "Augenzeugin der Moderne 1945-1975. Maria Netter, Kunstkritikerin und Fotografin" (Autoren: Dr. Bettina von Meyenburg-Campell und Dr. Rudolf Koella) eine dokumentarische Präsentation mit rund 100 aussergewöhnlichen und bislang grösstenteils unveröffentlichten Reproduktionen von Schwarz-Weiss-Fotografien der in Basel wohnhaften und dort verstorbenen Journalistin und Kunstkritikerin Maria Netter (1917–1982). Die aus einer jüdischen Familie stammende Maria Netter verliess Berlin 1936, um in Basel zu studieren. Nach dem Studium der Kunstgeschichte avancierte sie zu einer der einflussreichsten und mutigsten Kritikerinnen der zeitgenössischen Kunstszene im deutschsprachigen Raum. Man sah die autodidaktische Fotografin Maria Netter kaum ohne ihre Kleinbildkamera Leica M3, die in den frühen 1950-er Jahren auf den Markt kam und die es ihr erlaubte, ohne Blitzlicht Schnappschüsse zu machen. Auf ihren Kunststreifzügen entstanden u.a. Fotos von Künstlern, Galeristen, Sammlern, Museumskuratoren und Ausstellungseinrichtungen, aber auch von vielen Freunden. Ihre Texte illustrierte sie vielfach mit eigenen Fotografien. Noch während ihres Studiums begann Maria Netter als Kunstreferentin für die Basler Nachrichten zu schreiben. Seit 1943 erschienen ihre Berichte zudem in der Basler National-Zeitung, oder auch im St. Galler Tagblatt und in den Luzerner Neusten Nachrichten. Danach schrieb sie als freie Mitarbeiterin für wichtige Schweizer Kunstmagazine und Zeitungen wie u.a. Das Werk, Graphis oder die Schweizer Monatshefte sowie für Die Weltwoche, die Zürcher Tat und die Schweizerische Finanzzeitung.
Maria Netter war eine feingeistige, kultivierte Intellektuelle, eine Kunstjournalistin mit rebellischem Geist, fantasievollem Humor und einer grossen Leidenschaft für die Fotografie. Zusammen mit den Kritiken, die sie zumeist auf der Basis persönlicher Interviews mit Künstlern und namhaften Akteuren des schweizerischen und internationalen Kunstbetriebs verfasste, sind ihre Fotos ein lebendiges Dokument des grossen Aufschwungs und der damit einhergehenden Veränderungen der Bildenden Kunst in der Zeit von 1945 bis 1975. Vom Neuanfang der Abstraktion nach dem Zweiten Weltkrieg hin zum amerikanischen Abstrakten Expressionismus, über Pop Art, Nouveau Réalisme und Minimal Art zur Concept Art, von der Arte Povera zu Happening und Performance: Maria Netter war eine »Augenzeugin der Moderne«. Ihre Fotos und scharfsinnigen Texte erzählen Kunstgeschichte.
Netter besass ein besonderes Faible für das zeitgenössische Kunstschaffen, das zur damaligen Zeit in der breiten Öffentlichkeit oft auf Unverständnis und Ablehnung stiess. Als Journalistin versuchte sie, das Kunstpublikum dazu zu animieren, sich mit dem Ungewohnten und Neuen der zeitgenössischen Kunst auseinanderzusetzen. Zweifellos eine wichtige Inspiration war der ihr auch persönlich nahestehende Basler Museumsdirektor Georg Schmidt, bei dem sie nach Abschluss ihres Studiums 1944 eineinhalb Jahre lang als Assistentin arbeitete. Als Maria Netter 1943 Kunstkritiken zu schreiben begann, gab es in der Schweiz wenige weibliche Vertreterinnen dieser Berufsgattung. Neben ihr waren dies lediglich die Deutsche Herta Wescher, die seit 1942 ebenfalls in Basel lebte und für verschiedene internationale Zeitungen als Journalistin schrieb, die Kunsthistorikerin Carola Giedion-Welcker aus Zürich sowie die Baslerin Georgine Oeri, die zeitweise auch in New York lebte und von dort aus vor allem über die damalige amerikanische junge Kunstszene berichtete. Netters Urteile zu den verschiedenen neuen Kunstströmungen waren scharfsinnig und sehr eigenständig. In ihren Kritiken nahm sie kein Blatt vor den Mund und vertrat glasklar ihr eigenes Urteil. Sie stellte so manches in Frage, und ihre Artikel waren weder bei allen Lesern, noch bei allen Künstlern und Vertretern der Kultur- und Kunstinstitutionen immer willkommen. Auch hatte sie Präferenzen für bestimmte neue künstlerische Ausdrucksformen, beispielsweise für die Minimal Art.
Als eine der ersten Fachjournalistinnen nahm Netter den modernen Kunsthandel kritisch unter die Lupe. Unter der Rubrik »Kunstmarkt« erschienen ihre Artikel bis kurz vor ihrem Tod 1982 in Wirtschafts- und Finanzzeitungen. Maria Netters Porträts und Fotoreportagen von Künstlern vermögen auch Jahrzehnte später, dem Betrachter das Charismatische der verschiedenen Künstlerpersönlichkeiten zu vermitteln (u.a. Alexander Calder, Alberto Giacometti, Joseph Beuys, Irène Zurkinden, Jean Tinguely, Niki de Saint Phalle). Dies gilt vor allem für die Porträts, in denen eine deutliche Sympathie und Vertrautheit zwischen Künstler und Fotografin zu spüren ist. Das Fotografieren war für Maria Netter mehr als ein privates Hobby. Dies belegt die Tatsache, dass sie ihre Fotos auch bei internationalen Wettbewerben einreichte, wie etwa das Porträt von Max Kämpf aus dem Jahr 1954. Auch verlangte sie ausdrücklich, dass ihre Fotos, die publiziert wurden, mit ihrem Namen gekennzeichnet waren. Gleichzeitig stand sie anderen neuen Strömungen, wie etwa der Pop Art, zunächst kritisch-distanziert gegenüber. Erst nach 1966 fing sie an, den Siegeszug der Pop Art in den USA und Europa zu würdigen. Ebenso gelang es Maria Netter nicht von Anfang an, die besondere künstlerische Qualität im Werk von Jean Tinguely zu erkennen. Den »schüttelnden, von konstanter Hinfälligkeit bedrohten Abfallkonglomeraten aus Drähten, Stofffetzen und rostigen Konservenbüchsen der frühen sechziger Jahre« konnte sie zunächst nur sehr wenig abgewinnen. Begeisternde Worte fand sie erstmals im November 1967 für Tinguelys Schaffen, anlässlich der Ausstellung »Luginbühl – Tinguely« im Kunstmuseum Luzern.
Seit den späten 1960er-Jahren interessierte sich Netter zunehmend auch für die Hintergründe des Kunstmarkts, der in jener Zeit vor allem in der Schweiz mächtigen Auftrieb erhalten hatte. In Basel hatte Maria Netter bedeutenden Anteil an der sich entfaltenden Entwicklung der Stadt zu einer Kunst- und Kulturstadt der Moderne. Sie kommentierte das Anwachsen der hiesigen Museumssammlungen, deren Verantwortliche und Stifter sie zumeist persönlich kannte. Sie ermunterte die jungen Künstler, Kuratoren und Galeristen, sich im Hier und Jetzt der Kunstszene zu engagieren. Maria Netter wurde zu einer einflussreichen Persönlichkeit im Basler Kunstleben. Als Pressesprecherin und Mitglied des Fachgremiums der Art Basel war sie zudem am internationalen Erfolg und raschen Wachstum der 1970 erstmals veranstalteten Kunstmesse beteiligt. Ab Ende 1975 gehörte sie zudem der Kommission des Kunstvereins an, die über das Programm der Basler Kunsthalle entschied.
Maria Netter vermachte ihren schriftlichen Nachlass der Basler Universitätsbibliothek. Ihren fotografischen Nachlass, der aus ca. 20‘000 Einheiten mit rund 10‘000 Kunstsujets besteht, hinterliess sie nach ihrem Tod 1982 der damals im Kunsthaus Zürich domizilierten Schweizerischen Stiftung für Photographie. Seit 2014 befindet sich dieser Nachlass als Dauerleihgabe der in Winterthur ansässigen Fotostiftung Schweiz beim Schweizerischen Institut für Kunstwissenschaft (SIK-ISEA) in Zürich, wo er für Forschungszwecke aufgearbeitet und verfügbar gemacht wird.
Publikation »Augenzeugin der Moderne 1945–1975. Maria Netter, Kunstkritikerin und Fotografin«, herausgegeben von Dr. Bettina von Meyenburg-Campell und Dr. Rudolf Koella im Basler Schwabe Verlag.
Das Buch hat den internationalen künstlerischen Aufbruch nach dem Zweiten Weltkrieg zum Thema, einer einzigartigen Zeit mit aussergewöhnlichen Künstlern, bedeutenden Sammlern, bahnbrechenden Kunstvermittlern und mutigen Galeristen. Beobachtet und begleitet wurde dieser Aufbruch in Wort und Bild durch die Kunstkritikerin Maria Netter, deren Texte und Fotografien hier zum ersten Mal geschlossen zugänglich gemacht werden.
Die Realisierung der hier präsentierten Dokumentation wurde unterstützt durch die freundliche Zusammenarbeit mit Dr. Bettina von Meyenburg-Campell und Dr. Rudolf Koella, den Autoren des oben genannten Buches zu Maria Netter, dem Basler Schwabe Verlag und dem Schweizerischen Institut für Kunstwissenschaft (SIK-ISEA), Zürich.