À bruit secret Das Hören in der Kunst

Alexander Tillegreen, Installationsaufnahme von «Phantom Streams» for O-Overgaden (2022), im O-Overgaden Institute for Contemporary Art, Kopenhagen, 2022 © Alexander Tillegreen; Foto: Mikkel Kaldal

À bruit secret
Das Hören in der Kunst

22. Februar – 14. Mai 2023

À bruit secret. Das Hören in der Kunst ist die vierte in einer Reihe von fünf Themenausstellungen im Museum Tinguely, die sich auf experimentelle Art und Weise in die Welt der menschlichen Sinne begibt. Vom 22. Februar bis zum 14. Mai 2023 rückt die Schau unseren auditiven Sinn ins Zentrum, der beim multisensorischen Erleben von Kunst eine wichtige Rolle spielt. Sie bietet eine Vielfalt von kunsthistorischen, immersiven sowie interaktiven Begegnungen mit uns bekannten und unbekannten Klangwelten dieser Erde. Sowohl historische als auch speziell für diese Ausstellung realisierte Arbeiten von rund 25 internationalen Kunstschaffenden animieren das Publikum zum genauen Hinhören und eröffnen dabei auch akustische Bereiche, die für das menschliche Ohr normalerweise verborgen bleiben. Wie hört sich die Klanglandschaft des Basler Rheins an, oder wie klingt es unter der Wasseroberfläche des Ozeans? Lassen sich Stadtlärm oder tierische und menschliche Stimmen als bildnerisch-skulpturales Material verwenden? Wie verändern sich die Geräusche des Urwalds im Zuge der Einflüsse von Mensch und Klimawandel? Können Schallwellen auch anders als über die Ohren wahrgenommen werden und wie lassen sich akustische Phänomene visuell darstellen? Gezeigt werden Skulpturen, multimediale Installationen, Fotografien, Papierarbeiten und Gemälde von der Zeit des Barocks bis zur Gegenwart.

Die akustische Welt besteht aus einer Vielfalt an Klängen unterschiedlicher Art, die den Menschen wie eine universale «Komposition» umgibt. Hörerlebnisse evozieren subjektiv und sozio-kulturell stark unterschiedlich geprägte Emotionen, Erinnerungen und Assoziationen, die auch geschichtlichen Wandlungen unterliegen. Seit den späten 1960er Jahren befassten sich Wissenschaftler, wie beispielsweise der kanadische Komponist und Klangforscher Raymond Murray Schafer mit der Unterteilung unserer akustischen Umwelt in sogenannte Klanglandschaften (englisch: Soundscapes): Dabei werden grundsätzlich drei Arten von Klangwelten unterschieden: natürliche, technische und menschliche, wozu neben der Stimme auch die Musik zählt. Spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts wird die von Maschine und Technik bestimmte akustische Landschaft immer vorherrschender und dringt fast überall auf dieser Welt in den ursprünglichen Sound der Natur ein. R. Murray Schafer forderte eine Sensibilisierung unseres Hörsinns und legte auch wichtige Grundlagen für die sogenannte Ökoakustik, das Festhalten und Erforschen der sonoren Veränderungen unserer Ökosysteme durch Umwelteinflüsse und menschliche Eingriffe.

Christina Kubisch in ihrer Installation La Serra, 2019, Stadtgalerie Saarbrücken © Christina Kubisch; Foto: Kerstin Krämer

Christina Kubisch in ihrer Installation La Serra, 2019, Stadtgalerie Saarbrücken © Christina Kubisch; Foto: Kerstin Krämer

Die Schau À bruit secret inspiriert sich an diesem Aufruf, die Vielfalt an Geräuschen differenzierter wahrzunehmen. Anhand von multimedialen Kunstwerken taucht das Museumspublikum in verschiedene Klanglandschaften dieser Erde ein. Dabei trifft es auf Arbeiten, in denen das Element Wasser, die von Pflanzen und Tieren belebte Natur, Sprache als Grundlage von Kommunikation sowie der dissonante Lärm von grossen Metropolen eine Rolle spielen.

Schon zu Beginn nimmt uns die neu realisierte Audioinstallation Il reno (2023) der deutschen Klangkünstlerin Christina Kubisch mit in eine faszinierende Geräuschwelt. Hunderte Meter von blauem Kupferkabel bilden in der grossen verglasten Passarelle la Barca minimalistische Klangfenster mit Blick auf den Rhein und die Stadt Basel. Nur über die speziellen Induktionskopfhörer, die Kubisch entwickelt hat, erklingen beim Entlanggehen und Lauschen an den Elektrokabeln Unterwassergeräusche des Rheins.

Marcel Duchamp, À bruit secret, 1916 ​​​​​​​© Centre Pompidou, MNAM-CCI, Dist. RMN-Grand Palais / image Centre Pompidou, MNAM-CCI © Association Marcel Duchamp / 2022 ProLitteris, Zürich

Marcel Duchamp, À bruit secret (With Hidden Noise), 1916/1964
Assistiertes Readymade: Schnurknäuel mit unbekanntem Objekt, mit vier langen Schrauben zwischen zwei Messingplatten festgeschraubt, 12,7 x 15,2 x 15 cm
Achat, 1986

Centre Pompidou, Paris, Musée national d'art moderne – Centre de création industrielle
© Association Marcel Duchamp / 2023 ProLitteris, Zürich
Foto © Centre Pompidou, MNAM-CCI, Dist. RMN-Grand Palais / image Centre Pompidou, MNAM-CCI

Im darauffolgenden Raum versammeln sich neben dem Readymade À bruit secret (With Hidden Noise) von Marcel Duchamp (1916/1964) auch exemplarische Werke der frühen Avantgarden des 20. Jahrhunderts. Der Lärm des motorisierten und industrialisierten Alltags, Collagen aus Wortfragmenten und Lautgedichte sowie die zerstörerische Geräuschkulisse des 1. Weltkrieges werden von italienischen Futuristen wie Fortunato Depero oder Filippo Tommaso Marinetti und dem Merzkünstler Kurt Schwitters zu wichtigen Motiven ihrer Kunst. Der italienische Futurist Luigi Russolo plädiert 1913 dafür, den schrillen Sound «…der Strassenbahn, des Explosionsmotors, der Wagen und der lärmenden Menschen» als akustisch-ästhetisches Material zu verwenden.

Hermann Goepfert, Optophonium I, 1961/1962 Kunstmuseen Krefeld © 2022 ProLitteris, Zürich, Foto: Kunstmuseen Krefeld / Volker Döhne

Hermann Goepfert, Optophonium I, 1961/1962 Kunstmuseen Krefeld © 2022 ProLitteris, Zürich, Foto: Kunstmuseen Krefeld / Volker Döhne

Insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg arbeiten Musiker, Komponisten und bildende Künstler Disziplinen übergreifend zusammen. Jegliche Geräusche unseres Alltags, die Vielfalt unserer Stimmen und Sprachen, der urbane Lärm, aber auch die Stille werden zum künstlerischen Material. Künstler wie Robert Rauschenberg, Jean Tinguely oder Hermann Goepfert haben flüchtigen und meist dissonanten Sound als bildhauerisches Material definiert, mit denen sie im Raum experimentieren und gleichzeitig unsere visuelle wie akustische Wahrnehmung einfordern. Neben ‘objets trouvés’ und Elektromotoren, die Teil ihrer Klangplastiken sind, werden auch Ton aufzeichnende und abspielende Geräte wie das Radio zum künstlerischen Medium.

Rauschenberg Robert, Oracle, 1962-1965 Photo © Centre Pompidou, MNAM-CCI, Dist. RMN-Grand Palais / Philippe Migeat © Robert Rauschenberg Foundation / 2022, ProLitteris, Zurich

Hermann Goepfert, Optophonium I, 1961/1962
bois, métal, peinture, 57 plaques d'aluminium, 8 lampes, bande sonore, haut-parleurs
181 x 288 x 31,5 cm, 6 min 55 s
Musées d'art de Krefeld
2023 ProLitteris, Zurich, photo : Kunstmuseen Krefeld / Volker Döhne

Zum ersten Mal in der Schweiz überhaupt wird Robert Rauschenbergs Oracle (1962-1965) im Museum Tinguely präsentiert. Eine 5-teilige Assemblage aus diversen Fundobjekten, aus denen kakophonische Radiogeräusche erklingen und in der sogar Wasser fliesst.

Video/audio-Teil der Installation «Espírito da floresta» von Marcus Maeder, 2017-2020 © Courtesy the artist / 2022 ProLitteris, Zürich

Einige der gezeigten Kunstwerke basieren auf wissenschaftlichen Methoden und Erkenntnissen, wie beispielsweise die begehbare multimediale Arbeit Espírito da floresta/Forest spirit Florest (2017-2020) vom Schweizer Künstler, Forscher und Komponisten Marcus Maeder. Mit Spezialmikrofonen macht er Phänomene in der Natur, die wir normalerweise nicht hören können, akustisch erfahrbar und präsentiert sie im Kunstkontext. Espírito da floresta realisierte er auf der Basis von Tonaufnahmen, die er im Regenwald des Amazonas macht, um die Konsequenzen der Abholzung und die Beeinflussung des erhöhten CO2-Gehalts der Luft auf das Wachstum der Pflanzen und der darin lebenden Tierwelt akustisch zu dokumentieren.

Ursula Biemann, Acoustic Ocean, 2018, Installationsaufnahme anlässlich der Ausstellung im Centre culturel suisse, Paris 2020 ​​​​​​​© Ursula Biemann; Foto: Margot Montigny

Ursula Biemann, Acoustic Ocean, 2018
Installationsansicht anlässlich der Ausstellung im Centre culturel suisse, Paris, 2020
© Ursula Biemann; Foto: Margot Montigny

In Ursula Biemanns Video Acoustic Ocean (2018) tritt die samische Protagonistin mit Hydrophonen und parabolischen Mikrofonen ausgestattet als Feldforscherin auf, die in der Inselregion der norwegischen Lofoten die akustische Ökologie des Meeres aufnimmt. Biemann verweist mit Acoustic Ocean auf vielschichtige thematische Ebenen rund um das Wasser, seine geheimnisvollen Klänge und die von ihm abhängigen Lebewesen.

Der junge dänische Soundkünstler Alexander Tillegreen beschäftigt sich in seiner Audio- und Licht-Installation der Serie Phantom Streams mit dem psychoakustischen Phänomen der sogenannten 'phantom words'. Er arbeitet mit Hörtäuschungen und untersucht, wie das akustische Erfassen und inhaltliche Verständnis von bearbeiteten Tonaufnahmen von ein- und mehrsilbigen Wörtern in verschiedenen Sprachen im Raum funktioniert. Der Kolumbianische Künstler Oswaldo Maciá sammelte für Something Going On Above My Head (1999/2023) Audioaufnahmen von 2000 verschiedenen Vogelstimmen aus vier Kontinenten und hat daraus ein 30-minütiges Stück komponiert, das aus Druckkammerlautsprechern den Raum erfüllt.

Im Werk Musik für die Augen (1982) von Rolf Julius, von dem im Museum Tinguely eine Ausstellungskopie gezeigt wird, wird klar, dass man nicht nur mit den Ohren hören, sondern auch mit den Augen Vibrationen der unsichtbaren akustischen Schallwellen erspüren kann. Abstrakte Kompositionen aus Formen und Farben haben die Kraft, akustische und sogar synästhetische Bildwelten alleine durch die Imagination heraufzubeschwören. Beispiel dafür ist die neue Reliefserie Rhythm aus farbigem Papier von Jorinde Voigt.

Rolf Julius, Musik für die Augen, 1982, Installationsanischt Galerie Thomas Bernard, Paris 2015 © Estate Rolf Julius / Xippas / 2022 ProLitteris, Zürich, Foto: Rebecca Fanuele

Rolf Julius, Musik für die Augen, 1982
Installationsansicht Galerie Thomas Bernard, Paris 2015
© Estate Rolf Julius / Xippas/ 2023 ProLitteris, Zürich, Foto: Rebecca Fanuele

Vertreten sind Werke u.a. von folgenden Künstler:innen: Kader Attia, Ursula Biemann, George Brecht, Pol Bury, Cevdet Erek, Dominique Koch, Christina Kubisch, Fortunato Depero, Marcel Duchamp, Isa Genzken, Hermann Goepfert, Rolf Julius, František Kupka, Oswaldo Maciá, Marcus Maeder, Filippo Tommaso Marinetti, Carsten Nicolai, Emeka Ogboh, Meret Oppenheim, Nam June Paik, Alexander Tillegreen, Robert Rauschenberg, Dieter Roth, Luigi Russolo, Kurt Schwitters, Jean Tinguely, Bill Viola, Jorinde Voigt, James Webb

Die Ausstellung wird durch ein vielgestaltiges Veranstaltungsprogramm mit interdisziplinären Führungen, Talks und Konzerten sowie partizipativen Angeboten ergänzt, das unseren Besucher:innen auf unterschiedliche Weise ermöglicht, die zahlreichen Wirkungsfelder des Akustischen  zu erleben.

Kuratorin der Ausstellung: Annja Müller-Alsbach

Kooperationspartner: Kunstmuseen Krefeld