Fresh Window
Kunst & Schaufenster

Martina Morger, «Lèche Vitrines», 2020 (video still), video, HD 16:9, 17 min., courtesy the artist © Martina Morger, video still: Lukas Zerbst

Fresh Window
Kunst & Schaufenster

4. Dezember 2024 – 11. Mai 2025

Die Geschichten von Schaufensterdekoration und Bildender Kunst sind seit Jahrzehnten eng miteinander verwoben. Neben Jean Tinguely setzten zahlreiche Künstler:innen wichtige Impulse im Bereich der Schaufenstergestaltung. Andererseits taucht das Schaufenster immer wieder als Motiv in Kunstwerken auf oder dient als Bühne für Performances und Aktionen. Die Ausstellung beleuchtet diese wechselvolle Beziehung und wird mit künstlerischen Interventionen in Schaufenstern in Basel in den Stadtraum erweitert.

Das Zusammentreffen von Kunst und Schaufenstern mag zunächst ungewöhnlich erscheinen. Wirft man jedoch einen Blick in dessen Geschichte, wird man sich einer langen Tradition bewusst. Als sich das Schaufenster im ausgehenden 19. Jahrhundert zu einem zentralen Instrument moderner Konsumkultur entwickelte, kamen schnell auch Überlegungen zu ästhetischen Möglichkeiten der Warenpräsentation auf. Überraschende und kreative Inszenierungen machten Schaufenster zu Aushängeschildern der Geschäfte, die rund um die Uhr zum Verweilen anregen und Passant:innen über Angebote informierten; natürlich stets mit der Absicht, zum Kauf zu animieren.

Schaufensterdekoration von Jean Tinguely,
Optiker «M. Ramstein Iberg Co.», Basel, Mai 1949
Staatsarchiv Basel-Stadt, BSL 1022 KA 1601 D (Foto: Peter Moeschlin)

Bald setzten sich auch Künstler:innen mit diesem neuen Phänomen auseinander. Nachdem Marcel Duchamp mit seinem Werk Fresh Widow schon 1920 die Funktion und Bedeutungsebenen des Fensters ad absurdum geführt hatte, dekorierte er 1945 anlässlich einer Buchveröffentlichung von André Breton erstmals ein Schaufenster in New York. Zu dieser Zeit war Jean Tinguely bereits als professioneller Schaufensterdekorateur in Basel aktiv. Er hatte seine Lehre 1941 am Warenhaus Globus begonnen, wurde 1943 aber aufgrund seines undisziplinierten Verhaltens fristlos entlassen. Dadurch schloss er die Ausbildung 1944 beim unabhängigen Dekorateur Joos Hutter ab, der ihn zum Besuch der Kunstgewerbeschule Basel anregte. In seinen häufig aus Draht geschaffenen Dekorationen, die Tinguely unter anderem für den Optiker Ramstein Iberg Co., den Buchladen Tanner oder das Möbelgeschäft Wohnbedarf Jehle herstellte, deutete sich bereits seine spätere künstlerische Handschrift an.

Auch im New York der 1950er-Jahre verschafften sich Künstler:innen durch regelmässige Aufträge in diesem Bereich ihr Zubrot. Eine wichtige Rolle spielte dabei Gene Moore, der als Art Director des grossen Warenhauses Bonwit Teller und des Juweliergeschäfts Tiffany &  Co. das Talent junger, noch unbekannter Kunstschaffender förderte. So wählte er zum Beispiel immer wieder Werke von Sari Dienes für seine Schaufensterauslagen aus oder beauftragte Robert Rauschenberg, Jasper Johns oder Andy Warhol mit der Herstellung aufwendiger Dekorationen, bevor sie in der Kunstwelt Fuss fassten. Einige dieser Schaufenster werden in der Ausstellung durch Fotografien dokumentiert oder originalgetreu rekonstruiert und können nach rund 70 Jahren so erstmals wieder entdeckt werden.

Andy Warhol, Bonwit's Loves Mistigri, wooden panels, 1955, Reproduktion 2021, The Andy Warhol Museum, Pittsburgh
© The Andy Warhol Foundation for the Visual Arts, Inc. / 2024 ProLitteris, Zürich

Schaufensterdekoration von Andy Warhol für das Parfum «Mistigri» von Jacques Griffe, Warenhaus Bonwit Teller, New York, 28. Juni 1955, Dan Arje papers, New School Archives and Special Collections, New York.
© The Andy Warhol Foundation for the Visual Arts, Inc. / 2024 ProLitteris, Zürich

Christo, Purple Store Front, 1964
Holz, Emailfarbe, Plexiglas, Stoff, Acrylfarbe, Papier, Drahtgitter, Türgriff und Schloss, Schrauben, Nägel, LED-Licht
235.3 x 220.3 x 34.9 cm
© 2024 ProLitteris, Zürich; Christo and Jeanne-Claude Foundation, Foto: Wolfgang Volz

Umgekehrt wurde das Schaufenster als Motiv auch in zahlreichen Gemälden, Installationen, Skulpturen, Videoarbeiten und Fotoserien aufgegriffen. In diesen Werken zeichnen sich die dem Schaufenster inhärenten Qualitäten und Assoziationsräume ab. Richard Estes, Peter Blake oder Ion Grigorescu thematisierten in den 1960er- und 1970er-Jahren die bunte, üppige Welt des Kapitalismus. Die verführerische Funktion der Schaufenster wird in Martina Morgers Performance Lèche Vitrines (2020) deutlich, die den französischen Begriff (zu deutsch: Schaufensterbummel) wörtlich übersetzte und Schaufenster in Paris ableckte. Mit den verhängten Fenstern in seinen Store Fronts (1964-68) spielte Christo mit dem Aspekt des Voyeurismus und der skulpturalen Eigenschaft des Schaufensters. Die szenografische Meisterschaft des traditionellen Dekorationhandwerks wird in den Street Vitrines (2020) von Atelier E.B alias Beca Lipscombe und Lucy McKenzie oder der Videoarbeit Did you know you have a broken glass in the window? (2020) von Anna Franceschini aufgegriffen.

Elmgreen & Dragset, Prada Marfa, 2012
HD Video, Dauer 8:00 min
© 2024 ProLitteris, Zürich; Elmgreen & Dragset

Auch die Rolle des Schaufensters als gesellschaftlicher Spiegel, welcher das Stadtbild zugleich entscheidend mitprägt, ist ein Gesichtspunkt, der von Kunstschaffenden thematisiert wird. Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts dokumentierten Eugène Atget in Paris und Berenice Abbott in New York die Fronten verschiedener Läden. Dass anhand von Schaufensterdekorationen auch ein politischer Wandel nachvollzogen werden kann, zeigen Iren Stehlis Fotografien, die sie ab den 1970er- bis in die 1990er-Jahre in Prag aufnahm. Mit der Fotoserie Greenpoint: New Fronts (2015 bis heute) bildet Martha Rosler die Gentrifizierung ihres New Yorker Heimatquartiers ab. In ihrem Greenpoint Project (2011) porträtierte sie ausserdem die Menschen hinter den Scheiben. Damit zeigt sie die Bedeutung, die Geschäfte in einem sozialen Gefüge einnehmen können – ein Aspekt, der auch in Tschabalala Selfs Serie Bodega Run (2015 bis heute) relevant ist. In Textil-, Neon- oder Fotoarbeiten setzt sie sich mit der Geschichte und Kultur der Bodegas auseinander, in denen die verschiedenen Communitys New Yorks bei ihren Einkäufen aufeinander treffen. Nicht nur in Basel, auch in anderen Städten stehen heutzutage aber immer mehr Geschäfte leer. Die Blütezeit der Schaufenster scheint längst vergangen zu sein. Auf diese Entwicklung verweisen die fotorealistischen Gemälde von Sayre Gomez oder die filmisch-atmosphärischen Fotografien von Gregory Crewdson.

Lynn Hershman Leeson, Ohne Titel (Hand Photograph), aus der Serie 25 Windows: A Portrait/Project for Bonwit Teller, 1976/2015. Farbfotografie, ca. 35 x 28 cm
ZKM | Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe. © Lynn Hershman Leeson; Foto: ZKM | Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe, Foto: Franz J. Wamhof.

Als gut sichtbare Auslage an prominenter Lage wurden Schaufenster ausserdem für Performance- und Aktionskünstler:innen interessant. Mit dem Ziel, ein möglichst grosses und breit aufgestelltes Publikum anzusprechen, wurden auf dieser Bühne immer wieder sozialpolitische und gesellschaftliche Fragestellungen verhandelt. Im Oktober 1969 setzte sich Tinguelys Rotozaza III im Schaufenster des Berner Warenhauses Loeb in Gang. Vor einer Traube Schaulustiger zerstörte die Maschine Geschirr und kritisierte damit auf spielerische Weise den übermässigen Konsum in der westlichen Welt. Vlasta Delimar oder María Teresa Hincapié nutzten das Schaufenster, um auf tradierte Rollenbilder der Frau aufmerksam zu machen. Marina Abramović tauschte 1975 in ihrer Performance Role Exchange den Arbeitsplatz mit einer Prostituierten in Amsterdam und sass für zwei Stunden im Fenster eines Bordells. Damit hinterfragte sie nicht nur den Wert, der unterschiedlichen Tätigkeiten zugeschrieben wird, sondern auch moralische Konnotationen des Schaufensters.

Lynn Hershman Leeson nutzte die Fenster des Kaufhauses Bonwit Teller 1976, um in einer multimedialen Installation die Stadt New York zu porträtieren. Die Szenen, durch die sich ein narrativer Faden zog, präsentierten keinerlei käufliche Objekte, sondern regten viel mehr zum Nachdenken an. Sherrie Rabinowitz und Kit Galloway ermöglichten es 1980 mithilfe innovativster Technik, dass Passant:innen vor einem Schaufenster in New York durch eine Form der Videotelefonie in Austausch mit Spaziergänger:innen in Los Angeles treten konnten. Ihre Arbeit Hole in Space macht damit wunderbar deutlich, welche Rolle das Schaufenster einnehmen kann: Ein Ort der Interaktion, Diskussion und des Zusammentreffens.

Mit künstlerischen Interventionen in Schaufenstern wird die Ausstellung in den Basler Stadtraum erweitert. Dafür kooperiert das Museum Tinguely mit StadtKonzeptBasel und Studierenden des Institut Kunst Gender Natur HGK Basel FHNW, welche die Auslagen unterschiedlicher Geschäfte von Januar bis März 2025 installativ oder performativ bespielen werden.

Künstler:innen: Berenice Abbott, Marina Abramović, Atelier E.B. (Beca Lipscombe & Lucy McKenzie), Eugène Atget, Peter Blake, Christo, Gregory Crewdson, Vlasta Delimar, Sari Dienes, Marcel Duchamp, Elmgreen & Dragset, Richard Estes, Anna Franceschini, Kit Galloway & Sherrie Rabinowitz, R.I.P. Germain, Sayre Gomez, Ion Grigorescu, Nigel Henderson, Lynn Hershman Leeson, María Teresa Hincapié, Jasper Johns, John Kasmin, François-Xavier Lalanne, Bertrand Lavier, Martina Morger, Robert Rauschenberg, Martha Rosler, Giorgio Sadotti, Tschabalala Self, Johnnie Shand Kydd, Sarah Staton, Iren Stehli, Pascale Marthine Tayou, Jean Tinguely, Goran Trbuljak, Andy Warhol, Jiajia Zhang. 

Die Ausstellung wird kuratiert von Adrian Dannatt, freischaffender Kurator und Kunstkritiker, Tabea Panizzi, Kuratorin am Museum Tinguely, und Andres Pardey, Vizedirektor am Museum Tinguely. Assistenz: Melanie Keller.

Zur Ausstellung erscheint ein reich illustrierter Katalog (dt./engl.) mit Beiträgen von Theo Carnegy-Tan, Adrian Dannatt, Natasha Degen, Blake Gopnik, Melanie Keller, Tabea Panizzi, Andres Pardey und Alys Williams im Verlag für moderne Kunst.