Die Tiefe spüren

Julian Charrière im Gespräch mit Andreas Beitin und Roland Wetzel

Roland Wetzel (RW): Die Ausstellung Midnight Zone erkundet die tiefsten Regionen des Meeres, Gebiete, die für den Menschen kaum zugänglich sind. Sie befasst sich mit menschlichen Eingriffen in unberührte natürliche Umgebungen. Wie bist Du auf dieses Thema gekommen und welche Bedeutung hat es für Deine künstlerische Praxis?

Julian Charrière (JC)
: In meinem Werk befasse ich mich häufig mit Umgebungen, die jenseits der Grenzen direkter menschlicher Erfahrung liegen – mit Orten, die von der Tiefenzeit und elementaren Kräften geformt wurden, in ihrer gegenwärtigen Realität jedoch sehr gefährdet sind. Die Tiefsee ist eines der letzten wahren Grenzgebiete der Erde, ein riesengroßes und weitgehend unbekanntes Reich, das in enger Verbindung mit den Systemen der Erde steht. Ich habe mich zu diesem Raum gerade deshalb hingezogen gefühlt, weil er trotz seiner scheinbaren Unzugänglichkeit zunehmend durch menschliche Einflussnahme beeinträchtigt wird – sei es durch den Klimawandel, den Tiefseebergbau oder die Umweltverschmutzung. Midnight Zone ist ein Versuch, diese verborgene Welt wahrnehmbarer zu machen, die Betrachter*innen mit dem Paradox eines Ortes zu konfrontieren, der so fern liegt, doch so eng mit unserer Existenz verwoben ist.

Das Meer umfasst 65 Prozent der Erdoberfläche, berücksichtigt man aber alle drei Dimensionen, sind es 95 Prozent der Biosphäre – das heißt, die Erde ist im wahrsten Sinne des Wortes „Planet Meer“. Dennoch haben wir uns – ganz unverhältnismäßig – auf lediglich die 5 Prozent des Erdenraums konzentriert, die wir bewohnen. Naturwissenschaftler*innen haben die Tiefsee kartiert, gemessen und kategorisiert, aber eine Karte gibt nur eine Oberfläche wieder – sie erlaubt es uns nicht, den von ihr beschriebenen Ort zu betreten, ihn zu spüren oder zu bewohnen. Diese Feststellung ließ bei mir die Frage aufkommen, ob die Kunst nicht etwas bieten könnte, das über wissenschaftliche Erkenntnisse hinausgeht – ob die Kultur als Verbindung zwischen der Oberfläche und der Tiefsee dienen und eine andere Art von Beziehung zum Meer fördern könnte.

Wir müssen eine Kultur für den Umgang mit der Tiefsee entwickeln – ein Bewusstsein, das über die wissenschaftliche Datenerhebung hinausgeht, um eine tiefere, poetischere und gefühlsbetontere Beziehung zu ihr zu erlangen. Bevor wir dieses Reich schützen können, müssen wir es anerkennen – und zwar nicht als abstrakte Ressource oder als Dienstleister, sondern als lebendigen, dynamischen Raum, der für die Balance unseres Planeten wesentlich ist. Ich hoffe, dass ich mit meinem Werk auf meine Weise zu diesen Bemühungen beitragen kann – nicht indem ich einen Zugang biete, sondern indem ich ein Gefühl der Nähe zu dieser riesigen, unheimlichen und immer noch großenteils unbekannten Welt vermittle, die paradoxerweise unabdingbar für das Überleben jener ist, die das Land bewohnen.

Wir erlegen der Natur zu oft künstliche Unterscheidungen auf – sondern das Terrestrische vom Aquatischen und das Himmlische vom Irdischen ab –, als wären sie separate, isolierte Bereiche. Aber die Tiefsee existiert nicht unabhängig von der Atmosphäre, genau so wenig wie der Himmel vom Land getrennt ist. Alles ist miteinander verflochten. Die Ökologie ist kein Set aus unabhängigen Systemen, sondern das Bindeglied, das sie zusammenhält. Wir müssen eine andere Art und Weise entwickeln, wie wir die Erde wahrnehmen und beschreiben – nicht als Einzelteile, sondern als eine zusammenhängende, verwobene Realität.

Andreas Beitin (AB): Wie gehst Du an die konzeptuelle Phase Deiner neuen Videoarbeiten heran? Welche Elemente bauen auf früheren Themen auf, welche Aspekte sind neu? In welchem Ausmaß nimmst Du Inspirationen von außerhalb der Kunstwelt auf, etwa von wissenschaftlichen Recherchen?

JC
: Sowohl Albedo (2025) als auch Midnight Zone (2024), das Werk, dessen Titel die Ausstellung aufnimmt, setzen meine fortdauernde Beschäftigung mit dem Meer fort, untersuchen sein veränderliches, schwer fassbares Wesen und gehen auf die Art und Weise ein, wie wir das Unbekannte zu verstehen versuchen.

Mit Albedo führe ich meine Untersuchungen der Kryosphäre weiter, insbesondere im Dialog mit Towards No Earthly Pole (2019), allerdings aus einer gänzlich anderen Perspektive – dieses Mal von unten statt von oben. Midnight Zone steht hingegen am Beginn einer intensiveren Untersuchung der Tiefseeebene, eines weitgehend unbeachtetes Gebiets, das dennoch zunehmend von menschlicher Präsenz geprägt wird. Beide Werke stellen die Frage, wie wir uns in fremden Umgebungen orientieren und wie die Wahrnehmung – sei sie von Licht, Klang oder Bewegung bestimmt – unsere Beziehung zu diesen Ökosystemen strukturiert.

Bei Albedo befindet sich das Publikum auf dem Boden des Museums und blickt nach oben statt nach vorne, als würde es von unten in den Abgrund hinabsteigen und sich in das Himmlische versenken. Diese Umkehrung destabilisiert unsere übliche Beziehung zum Raum und spiegelt die Neuausrichtung der Wahrnehmung, die ich während meiner Arbeit in der Arktis erlebte, wo Entfernung, Tiefe, Maßstab und sogar Oberflächen unbestimmbar werden. Midnight Zone führt diese Logik weiter: Hier ist die Kamera ungebunden und umkreist die Fresnel-Linse, statt einen festen Blickwinkel einzunehmen. Dadurch, dass viele Arten von unter Wasser lebenden Tieren sich um das Licht sammeln und darum verteilen, erhält das Video eine der Schwerkraft entgegenwirkende Qualität, in der sich der Richtungssinn verliert. Wir haben nicht mehr die Position von Betrachter*innen, wir treiben innerhalb der Szene – bewegen uns mit dem Licht, anstatt ihm eine Bedeutung aufzuerlegen. Hierdurch werden die hierarchischen Strukturen unterlaufen, die uns üblicherweise bei der Einordnung unseres Wissens und dessen, was wir sehen, unterstützen; wir sind keine Forscher mehr, die das Unbekannte kartieren, sondern lediglich eine weitere Form von Präsenz, die durch die Tiefe navigiert.

Im Wesentlichen untersucht Midnight Zone, wie wir eine Beziehung zu Räumen jenseits unseres unmittelbaren Einflussbereichs herstellen – zu Orten, die bisher kaum wahrgenommen werden, an denen sich der menschliche Einfluss jedoch bereits störend bemerkbar macht. Das Abtauchen der Fresnel-Linse ist sowohl eine Recherche als auch eine Begegnung, die die miteinander verflochtenen Ökosysteme der Tiefsee sichtbar werden lassen. Im Meer gibt es keine starren Grenzen, nur Ökotone. Wenn sich die Kamera in die sogenannte Mitternachtszone bewegt, in die die Sonne nicht mehr vordringt und in der Licht nur als Biolumineszenz vorkommt, wird die Laterne zu einer zwiespältigen Erscheinung: Sie ist gleichzeitig ein Leuchtfeuer und eine Störung, erhellend und zudringlich. Sie verkörpert das Paradox unserer Existenz – wir versuchen zu sehen und zu verstehen und verändern dabei jedoch unvermeidlich alles, was wir berühren.

Letztendlich versuchen sowohl Albedo als auch Midnight Zone, die Betrachter*innen aus vertrauten Perspektiven zu lösen. In Albedo tauchen wir aufwärts und nicht nach unten, die räumlichen Erwartungen werden umgekehrt. In Midnight Zone steigen wir in eine unbekannte Zone hinab und müssen feststellen, dass wir nicht allein sind. In beiden Videos werden die Grenzen der Wahrnehmung und die Ethik der Präsenz hinterfragt. Sie erkunden, ob wir eine harmonische Beziehung zu Welten herstellen können, die weitestgehend unsichtbar, aber untrennbar mit unserem eigenen Überleben verbunden sind.

AB: Bei der Produktion von Videoarbeiten wie Midnight Zone und Albedo hast Du unter extremen Bedingungen gearbeitet. Wie bereitest Du diese Projekte und ihre Durchführung vor? Wie viele Menschen sind daran beteiligt, und welche Sicherheitsvorkehrungen triffst Du, insbesondere wenn unter Wasser oder in der Arktis aufgenommen wird?

JC
: Die Vorbereitung solcher Projekte nimmt Monate – manchmal Jahre – in Anspruch. Jede Expedition wird von den einzigartigen Anforderungen der Landschaft, dem logistischen Aufwand und den unvorhersehbaren Kräften bestimmt, die mit im Spiel sind – weshalb sie sowohl aufregend als auch äußerst herausfordernd sind. Wenn man unter extremen Umweltbedingungen arbeitet, ist eine sorgfältige Balance zwischen einer genauen Planung und einer Offenheit gegenüber Ungewissheiten erforderlich. Jedes Projekt beginnt mit intensiver Recherche, logistischer Koordination und der Zusammenstellung eines Teams, das die nötige Expertise für den Umgang mit diesen Bedingungen mitbringt – Naturwissenschaftler*innen, Taucher*innen, Kameraleute, Ingenieur*innen und lokale Führer*innen, die jeweils eine entscheidende Rolle bei der Realisierung des Werks innehaben.

Für Midnight Zone wurde in der Tiefsee gefilmt. Dies bedeutete, dass tauchfeste und spezialisierte Kamerasysteme benötigt wurden, die sich ungeheuer starkem Druck, veränderlichen Strömungen und absoluter Dunkelheit gewachsen zeigen. Zum Team gehörte der Kameramann Antoine Drancey, der die ferngesteuerte Unterwasserdrohne lenkte und von Brieg Dufée sowie dem Unterwasserkameramann Adil Schindler und dem Schiffsingenieur Christophe LeClercq unterstützt wurde. Dieser kontrollierte die schwebende Fresnel-Linse. Runar Jarle Stray Wiik war Produzent und Taucher, während Sten Johansson sich um die Sicherheit unter Wasser kümmerte. Die Koordination vor Ort oblag Tanya und Sten Johansson, und Kapitän Pablo und seine Crew waren für das reibungslose Funktionieren des Schiffs und seine komplexe Logistik zuständig.

Im Gegensatz dazu entstand Albedo in der Arktis, wo die Herausforderungen genauso unerbittlich waren – Temperaturen unter null, Eisverschiebungen und extreme Abgeschiedenheit. Die Arbeit erforderte nicht nur technische Kompetenz, sondern auch körperliches und mentales Durchhaltevermögen, da das Team rund um die Uhr tätig war und die Möglichkeiten dessen ausreizte, was Körper und Geist ertragen können. Ungefähr ein Jahr nach meinen ersten Versuchen machten wir uns nach Ost-Grönland auf und errichteten in einem Inuit-Haus einen vorläufigen Stützpunkt – in einem Teil waren die Wohnräume, im andere Werkstatt und Kontrollcenter. Zum Team gehörte der Polarforscher und Expeditionskoordinator Morten Rasch. Antoine Drancey lenkte wieder die ferngesteuerte Unterwasserdrohne und Christophe LeClercq managte das Unterwasserlichtsystem. Felix Deufel, Klangkünstler und Toningenieur, war für das Einfangen der arktischen Klangumgebung zuständig. Runar Jarle Stray Wiik war als Freitaucher dabei, übernahm die Steuerung des Lichtsystems und unterstütze uns beim Manövrieren der Ausrüstung unter dem Eis. Mikael Rasch assistierte bei der Produktion und sorgte in jedem Stadium für Präzision, während der Inuit-Führer Kasper Broberg Sicherheit und Logistik überwachte, als wir unermüdlich auf dem gefrorenen Meer tätig waren.

Das Eis war ein immenses Hindernis. Für den Schnitt durch die 80 Zentimeter dicke Oberfläche verwendeten wir eine Kombination aus Kettensägen und den traditionellen Eispickeln der Inuit, „tooq“ genannt. Sorgfältig wurde eine Öffnung herausgetrennt, durch die die ferngesteuerte Unterwasserdrohne in den Abgrund hinabgelassen werden konnte. Maßgefertigte 360-Grad-Spotlights illuminierten das entrückte Unterwasserterrain – glasartige Eiskiele und sich verschiebende Formationen, die jegliche eindeutige Einschätzung von Maßstab oder Schwerkraft ausschlossen. Im Video scheinen diese Formationen zu schweben – losgelöst von vertrauten räumlichen Bezügen fordern sie die räumliche Wahrnehmungsfähigkeit der Betrachter*innen heraus.

Nicht nur das Visuelle, auch Geräusche spielten eine entscheidende Rolle. Hydrofone fingen die akustische Umwelt der Arktis ein – das spröde Knistern des sich bewegenden Eises, das Kalben von Gletschern und die Echos von Walgesängen, die durch die Tiefe widerhallten.

In diesen Umgebungen ist das Filmen niemals planbar. In Grönland führten plötzliche Temperaturveränderungen dazu, dass das Eis brach und driftete, wodurch die Navigation zu einer riskanten Auseinandersetzung mit den Elementen geriet. Die Gezeitenbewegungen führten täglich zu Veränderungen der Landschaft, weshalb die Planungen fortwährend anzupassen waren. Jeder Ausrüstungsgegenstand musste Monate vorher abgeschickt werden. Sobald wir vor Ort waren, konnte natürlich nichts mehr ersetzt werden.

Für Midnight Zone waren wir in der Mitte des Pazifiks dem Meer völlig ausgeliefert – den Wellen, dem Wind, den unerbittlichen Strömungen. Die konstante Bewegung der See verwandelte auch die einfachsten Aufgaben in Ausdauerübungen, und die Mannschaft kämpfte mit hartnäckiger Seekrankheit. Jedes Manöver wurde zu einer körperlichen und mentalen Herausforderung, was die Arbeit mühsam und anstrengend machte.

Über die technische Komplexität hinaus erfordern diese Projekte jedoch etwas Tiefergehendes – eine Veränderung der Wahrnehmung, die Bereitschaft, die Kontrolle abzugeben und sich auf die Kräfte einzustellen, die mit im Spiel sind. Ob man sich in der Tiefsee oder der Arktis befindet – die Herausforderung besteht nicht darin, Strukturen vorzugeben, sondern zuzuhören, zu beobachten, sich anzupassen und der Umwelt zu erlauben, den Arbeitsrhythmus zu bestimmen. Diese Orte existieren außerhalb der menschlichen Zeit, jenseits der Systeme, mit denen wir die Welt zu definieren versuchen. Wenn wir sie betreten, müssen wir akzeptieren, dass wir nicht das Kommando führen; wir sind Beteiligte an etwas viel Größerem, bewegen uns durch Landschaften, die nicht nur verändern, was wir sehen und hören, sondern die Art und Weise infrage stellen, wie wir uns zur Welt in Beziehung setzen.

RW: Wie haben Deine persönlichen Erfahrungen als Taucher die sinnliche und ästhetische Sprache Deiner Werke beeinflusst?

JC
: Tauchen ist die Rückkehr zu etwas Ursprünglichem – ein Zustand, in dem sich die Individualität auflöst und der Körper mit seiner Umgebung verschmilzt. Es wird eine verborgene Erinnerung, ein Nachklang der Zeit im Mutterleib geweckt; das Gefühl stellt sich ein, sobald man untertaucht. Unter Wasser verschwinden die Strukturen, die unseren Erfahrungen zu Lande zugrunde liegen – Schwerkraft, Richtung, die Grenze zwischen dem Selbst und der Umgebung. Anders als der Wind üben Strömungen nicht nur Druck auf den Körper aus, sie hüllen ihn ein, absorbieren und tragen ihn, als würde man sich nicht durch das Meer bewegen, sondern zu einem Teil von ihm werden. Masse und Volumen sind nicht mehr festgelegt; man bewegt sich nicht durch den Raum, sondern in ihm.

Hierdurch beginnt sich die Wahrnehmung zu verändern. Anders als Bewegungen auf der Erdoberfläche, die an eine einzige Ebene gebunden sind, ist Tauchen multidirektional – eine Ausdehnung über schwerkraftbedingte Einschränkungen hinaus, ein Navigieren zwischen Auftrieb und Tiefe. Die Orientierung ist nicht mehr von Gewissheit geprägt – ohne festen Horizont sind oben und unten relativ, undefiniert. Die Brechung des Lichts ist unvorhersehbar. Zuerst verschwinden die roten Wellenlängen, dann wird die Welt nach und nach von einem immer dunkler werdenden Blauspektrum absorbiert. Anders als der Himmel, der ein fernes Dach bleibt, ist das Meer ein Medium, das einen vollständig einhüllt – man bewegt sich nicht hindurch, sondern ist darin enthalten.

Wenige Erlebnisse enthüllen dieses Auflösen deutlicher als ein Strömungstauchgang im offenen Meer – 30 Meter tief ins Blau hinabzusteigen, sich der Strömung preiszugeben. Hier erreicht der Körper einen Schwebezustand, frei von seinen üblichen Verankerungen. Der Atem wird zur einzigen Konstante, die ausgeatmeten Blasen zum einzigen Richtungsweiser. Diese Erfahrung ist sowohl verwirrend als auch ekstatisch – ein Bezugsverlust, der paradoxerweise die bewusste Wahrnehmung verstärkt. Es ist keine Begegnung mit dem Unbekannten, sondern um eine Rückkehr zu etwas Fundamentalem – ein Eintauchen in genau die Substanz, aus der das Leben hervorgegangen ist.

Das Meer zerstört die Illusion des Getrenntseins. Er ist kein Raum, den man beobachtet, sondern einer, von dem man absorbiert wird, auf den man sich abstimmt, statt ihm etwas aufzuerlegen. Diese Auflösung der Grenzen – zwischen dem Körper und dem Medium, oben und unten – hat mein Denken über Raum, Zeit und sinnliche Erfahrungen tiefgreifend geprägt. Das Meer ist nicht einfach ein Thema, sondern ein Zustand, ein Mittel zur Neubestimmung der Wahrnehmung. Zu tauchen bedeutet, instinktiv zu erkennen, dass wir nicht von der Welt getrennt existieren, sondern in sie eingebettet sind – wie auch unser Blut immer noch den Salzgehalt eines einzigen, zusammenhängenden Ozeans aufweist.

RW: Amorina Kingdon beschreibt in ihrem Aufsatz für diese Publikation die Unterwasserwelt als eine Welt der Geräusche. Hat sich diese andersartige Wahrnehmungsebene auf das Konzept der Ausstellung ausgewirkt?

JC
: Eindeutig ja. Die Welt unter der Wasseroberfläche ist alles andere als still. Sie ist voller Leben – und voller Geräusche. Fische zwitschern, krächzen, knurren, manchmal so laut, dass ihre Stimmen über dem Wasser zu hören sind. Amorina hat Recht, wenn sie vorschlägt, die Metapher zu überdenken – statt Singen wie ein Vogel wäre es passender, Singen wie ein Fisch zu sagen. Fische lassen in der See schon weit länger von sich hören als Vögel am Himmel. Trotzdem haben wir immer angenommen, dass das Meer still wäre. Diese Mutmaßung sagt mehr über die Grenzen der menschlichen Wahrnehmungsfähigkeit aus als über die Natur des Meeres.

Schall bewegt sich im Wasser viereinhalb Mal schneller als in der Luft, aber unsere Ohren sind nicht darauf eingestellt, ihn wahrzunehmen. Wir haben unsere eigenen sinnlichen Beschränkungen als Nichtvorhandensein interpretiert. Diese Erkenntnis wurde zu einem zentralen Thema bei der Verwirklichung dieser Ausstellung – nicht nur als konzeptueller Strang, sondern als ein Mittel, um zu überdenken, wie wir uns mit der Tiefsee befassen. Was wäre, wenn nicht die Sehkraft, sondern das Hörvermögen der vorrangige Sinn wäre, mit dem wir den Raum erfahren und uns in ihm zurechtfinden?

Die Ausstellung stellt akustische Elemente in den Vordergrund – Hydrofonaufnahmen, das Klicken und Pulsieren des Meereslebens, das Infraschallsummen industrieller Aktivitäten –, um das Publikum in eine Sinneslogik eintauchen zu lassen, die den Erfahrungen von Landbewohnern fremd ist. Es geht darum, dass wir unsere Form der Wahrnehmung verändern und den Vorrang des Gesichtssinns zugunsten von etwas aufgeben, das veränderlicher, diffuser und stärker an die Entfaltung des Lebens in der Tiefe angepasst ist.

Wir verlassen uns bereits auf den Schall, um durch Bereiche zu navigieren, die wir nicht sehen können. Die Meereswissenschaft kartiert die Tiefsee mit akustischen Mitteln, verwendet Sonargeräte, um das wiederzugeben, was nicht direkt beobachtbar ist. Wenn sich aber das Meer durch Schall sichtbar machen lässt, können wir dann nicht auch die Schäden enthüllen, die wir ihm zufügen? Wie machen wir deutlich, erfahrbar, in welchem Ausmaß von den Menschen erzeugte Geräusche die Klangstrukturen der Unterwasser-Ökosysteme verzerren – in Schifffahrtskorridoren, bei seismischen Messungen und durch den Tiefseebergbau? In allen dieser Fälle tragen wir zur Desorientierung von Arten bei, deren Überleben von der Einordnung von Tönen abhängt.

Hier setzen Werke wie Midnight Zone an. Die vibrierenden Spiegel in der Ausstellung übersetzen von Menschen generierte Schallwellen in physische Verzerrungen und übertragen die unsichtbaren Störungen der akustischen Welt des Meeres in etwas, das wir sehen – und damit nicht mehr ignorieren – können. Das Sehen dominiert unsere Realität an Land, während das Hören der entscheidende Sinn des Meeres ist. Wenn man diese Aufteilung durcheinanderbringt, gerät eine ganze Welt ins Wanken.

AB: In Black Smoker (2025) nimmst Du uns mit auf eine Reise in die Tiefen des Meeres, wo geologische, biologische und menschengemachte Frequenzen ineinandergreifen. Kannst Du beschreiben, wie dieses Werk das Publikum in die verborgene Klanglandschaft der Tiefsee eintauchen lässt, und warum Du Dich dafür entschieden hast, es in nahezu vollständiger Dunkelheit zu präsentieren?

JC
: Seit Jahren faszinieren mich die Frequenzen der Geologie – die nicht hörbaren Stimmen der Erde, die jenseits des menschlichen Wahrnehmungsvermögens vibrieren. Black Smoker taucht in die Tiefsee hinab, wo hydrothermale Quellen – schwarze Raucher – mineralreiche Wolken in den Abgrund entlassen. Diese submarinen vulkanischen Schornsteine existieren in kompletter Dunkelheit, ihre Aktivitäten formen den Grund des Meeresbodens. Hier wird der Schall zu einer Brücke in eine unzugängliche Welt – wo Feuer und Wasser aufeinandertreffen, ungesehen, aber nicht ungehört.

Ähnlich wie Stone Speakers (2024) im Palais de Tokyo in Paris, das die seismischen Resonanzen des Erdinneren untersuchte, geht auch Black Smoker auf eine Ausdrucksform der Erde ein. In diesem Fall reisen wir jedoch nicht von einem Einsturzkrater ins Erdinnere hinein, sondern steigen 6000 Meter unter die Meeresoberfläche in eine Klanglandschaft, in der geologische, biologische und menschliche Frequenzen zusammenlaufen.

Die Tiefen des Meeres sind nicht still – sie pulsieren unter dem Gemurmel der sich verschiebenden tektonischen Platten, dem gutturalen Zittern der Unterwasservulkane, dem rasselnden Atem hydrothermaler Quellen, die mineralhaltige Wolken abgeben. Diese Geofonie, die von menschlichen Ohren kaum aufgenommen werden kann, bildet die Grundlage des Werks. Darin eingelagert sind die akustischen Spuren des Lebens – die tiefen Echos von Walgesängen, die flimmernde Biofonie von Tiefseeorganismen, die sich in dieser lichtlosen Welt bewegen. Durch all dies ziehen sich die fernen Nachklänge menschlicher Präsenz: das tiefe Brummen von Versuchsbohrungen des Tiefseebergbaus, die dumpfen seismischen Geräusche industrieller Eingriffe, der gespenstische Widerhall einer Zivilisation, die immer weiter in den Abgrund vordringt.

Was dem Werk Einzigartigkeit verleiht, ist die Tatsache, dass es auf einem Live-Datenstrom von Tiefseekabeln und Hydrofonen beruht, die Informationen etwa vom Monterey Bay Aquarium Research Institute (MBARI) in Kalifornien oder von dem unterseeischen Axial-Seamount-Vulkan aufnehmen. Die Geräte fangen die unablässigen Bewegungen der Meereswelt in Echtzeit ein. Das Ergebnis ist eine sich kontinuierlich entwickelnde Klanglandschaft, die auf die Rhythmen der Tiefe ausgerichtet ist, wo tektonische Verschiebungen und Unterwassereruptionen sich als eine fortdauernde Symphonie unseres Planeten entfalten.

Man sollte das Werk in fast kompletter Dunkelheit erleben. Ohne deutliche visuelle Verankerung verändert sich die Wahrnehmung – das Hören wird räumlich, greifbar. Weil es die visuelle Orientierung bewusst übergeht, ist das Werk ein Spiegel der Tiefseewelt, wo die Sehkraft nicht die dominante Rolle einnimmt und die Realität durch Vibrationen und Resonanzen erfassbar wird.

Stell dir vor, du sitzt auf dem Meeresboden, von Dunkelheit umgeben, der Körper im Schwebezustand zwischen Stille und Klängen. Wenn der Druck der Tiefsee um dich herum zur Ruhe kommt, beginnt die Erde zu flüstern – leise, gutturale Erschütterungen, die durch Stein sickern, die Seufzer geschmolzener Felsen, die durch unsichtbare Venen strömen. Die Zeit verlangsamt sich, löst sich in Ebbe und Flut des Atems der Erde auf. In dieser unermesslichen, verborgenen Welt bist du nicht mehr nur Beobachter*in. Du hörst zu, wirst Teil des Rhythmus der Tiefsee, treibst zwischen Vergangenheit und Zukunft, eingetaucht in das Gemurmel einer noch im Entstehen befindlichen Welt.

AB: Einerseits sind Deine Werke technisch aufwändig und ästhetisch inszeniert. Andererseits spielst Du mit Elementen der Mystik, des Erhabenen und des Enigmatischen. Wie bedeutsam sind diese Komponenten für Dich?

JC
: Ich sehe keinen Widerspruch zwischen technischer Präzision und poetischer Vieldeutigkeit – wenn überhaupt, dann verstärken sich diese Komponenten gegenseitig. Mein Werk ist häufig in dem Raum zwischen empirischem Wissen und einer intuitiveren, manchmal spekulativen Erkenntnis der Welt angesiedelt. Die Wissenschaft stellt uns die Werkzeuge zum Verständnis der Welt zur Verfügung, aber sie erfasst nicht unbedingt, wie es sich anfühlt, diese Welt zu erleben. Hier kommt die Kunst ins Spiel – nicht mit dem Zweck, das Wissen zu illustrieren, sondern seine Dimensionen auszuweiten, eher wachzurufen als zu erklären.

Die Tiefsee beispielsweise ist an sich erhaben – nicht von reiner Großartigkeit im romantischen Sinne, sondern als ein Raum, der sich allen Maßstäben widersetzt, jeder Vertrautheit trotzt und dessen Wirkung zwischen Verwunderung und Unbehagen oszilliert.

Diese Spannung zwischen dem Messbaren und dem Unermesslichen, zwischen rationaler Erkundung und dem Unbekannten, steht immer im Mittelpunkt meiner Arbeiten. Mich interessiert, wie wissenschaftliche Methoden und poetischere, auch mystische Wege der Erkenntnis einander überschneiden. Mein Werk basiert auf grundlegenden ökologischen und geopolitischen Anliegen, öffnet aber auch einen Raum für das Unbeschreibliche – für eine Art der Erfahrung, die nicht rein intellektuell ist, sondern stark auf Empfindungen basiert.

RW: In Deiner Arbeit verbindest Du häufig Naturwissenschaften, Technik und Kunst. Wie hast Du diese Disziplinen miteinander verknüpft, um die Konzepte hinter Midnight Zone zu erkunden?

JC
: Naturwissenschaften, Technik und Kunst bieten unterschiedliche Wege, sich auf die Welt einzulassen. Wissenschaft und Technik statten uns mit Werkzeugen aus, um den Blick in die Tiefsee zu öffnen. Sie kartieren die Tiefseegräben, messen die Strömungen, katalogisieren ihre Lebensformen. Wissenschaftliche Erkenntnisse allein schaffen aber keine Bindung. Eine Karte gibt vielleicht die Konturen eines Ortes wieder, ermöglicht es uns aber nicht, ihn zu bewohnen. Sie hilft uns nicht dabei, etwas zu fühlen. Und die Tiefsee verlangt mehr als jeder andere Ort auf der Erde danach, gefühlt zu werden.

Über Jahrhunderte haben wir uns auf das Dasein auf dem Lande konzentriert und Bedeutung nur solchen Landschaften zugeschrieben, in denen wir gehen und atmen oder die wir uns zu eigen machen können. Die Tiefsee bleibt andersartig – zu fern, zu fremd, zu unnachgiebig gegenüber der menschlichen Präsenz. Dabei fehlt der Tiefsee nicht einfach etwas, sie ist vielmehr ein Archiv, die stille Triebkraft irdischer Rhythmen, die urzeitliche Quelle des Lebens. Sie in unserer kollektiven Vorstellungswelt unkartiert zu lassen, würde bedeuten, dass wir selbst in einer unvollständigen Welt stranden.

Die Ausstellung Midnight Zone entstand aus dieser Verflechtung. Wissenschaftliche Methodologien und Kenntnisse – Tiefsee-Bildgebung, Hydroakustik und Umgebungsdaten – wurden mit einer künstlerischen Sensibilität zusammengeführt, die nicht nur dokumentieren, sondern wachrufen will. Mehrere Projekte in der Ausstellung entstanden in enger Zusammenarbeit mit Meereswissenschaftler*innen, Geolog*innen und Biolog*innen, deren Expertise mein Verständnis des Meers und unsere sich entfaltende Beziehung zu ihm formten.

Die Tiefsee ist nicht mehr unberührt – sie ist ein bedrohtes Ökosystem, das durch den Klimawandel, industrielle Extraktion und Lärmverschmutzung schneller verändert wird, als wir begreifen können. Wissenschaftliche Erkenntnisse allein werden sie nicht schützen. Was wir brauchen, ist eine Beziehung – ein kulturelles Bewusstsein für die Tiefsee, das nicht nur Verständnis, sondern auch Fürsorge und Verantwortung fördert.

Nur wenn wir die Tiefe fühlen, wenn wir sie nicht als Ressource, sondern als Teil unserer eigenen Geschichte betrachten, können wir damit beginnen, uns neue Wege zu ihrem Schutz zu überlegen. Wenn wir dies tun, werden wir möglicherweise endlich verstehen, was schon immer wahr war: dass unser Schicksal von dem des Meeres untrennbar ist.