Hinab

Sara A. Rich

Wenn Sie wieder einmal in einer wolkenlosen Nacht über das Meer fliegen, schauen Sie durch das Flugzeugfenster nach draußen und versuchen Sie, sich zu orientieren. Es gibt keinen wahrnehmbaren Horizont, nur Finsternis. Der Himmel geht ins Wasser über, der Ozean in die Atmosphäre. Auf den ersten Blick scheint es, als ob sich Lichter aus dem Weltall auf der Erdoberfläche spiegelten, dies ist jedoch eine Illusion. Der aufsteigende Sirius, der rote Mars und der weit entfernte Deneb tanzen über den Lichtern von Schiffen auf dem Meer und bringen ein ozeanisches Sternenlicht hervor.

 

Ich frage mich, ob Giizhigookwe Ähnliches erblickte, als sie zur Erde fiel. Natürlich wären es damals keine Lichter von Schiffen gewesen, sondern biolumineszente Organismen, die über dem Meer dahinglitten und wie Sterne schwebten.

 

Giizhigookwe (oder „Himmelsfrau“ auf Anishinaabemowin, der Sprache der Ojibwe) ist die Heldin einer Schöpfungserzählung der Stammesnationen der Großen Seen in Nordamerika.[1] In diesen Gemeinschaften existieren zahlreiche Variationen der Geschichte, die sich zudem mit der Zeit wandeln, einige Bestandteile sind jedoch allen gemeinsam. In einer Version war Giizhigookwe ein Manitu und lebte vor dem Auftreten der Menschen auf dem Mond. Eines Tages oder eines Nachts oder in der Abend- oder Morgendämmerung fiel sie in eines von Mondes Löchern.[2] Giizhigookwe stürzte durch einen scheinbar endlosen Raum immer weiter nach unten. Schließlich erschien vor ihr die runde blaue Form von Erde, und als sie weiter auf sie zu fiel, war nur das Blau von Erdes Ozean zu sehen. Sie fiel immer weiter und beobachtete, wie Mond hinter ihr auf Erdes ebbende und flutende Wasser einwirkte. Als sie näherkam, drohte das unermessliche Blau, sie zu verschlingen. Immer dichter kam sie an die Wasseroberfläche heran und konnte schließlich einzelne Wellen ausmachen, die in zirkulären Formen und Rhythmen aufeinanderprallten. Sie erkannte, dass ihr Ende nahe war.

 

Dann aber bemerkten die Wasservögel ihren Absturz, und sie erhoben sich mit flatternden und spritzenden Flügeln, um sie aufzufangen, bevor sie die Wellen erreichte. Weil Giizhigookwe auf Monds massiver, wenn auch von Hohlräumen, Kratern und Wurmlöchern durchsetzter Oberfläche gelebt hatte, wussten die Tiere, dass sie auf Erde einen festen Boden erschaffen mussten, um den geheimnisvollen Neuankömmling zu empfangen. Schildkröte kam aus den Tiefen an die Oberfläche und die Wasservögel halfen Giizhigookwe bei der Landung auf ihrem Rücken. Die Tiere wollten jedoch noch mehr für ihre Gästin tun, hatte sie doch eine Saat vielfältiger Möglichkeiten bei sich. Um diese Samen zum Keimen zu bringen, würden sie Erdreich brauchen, genau die Erde, die Erde ihren Namen gab. Die Tiere blickten sich um und sahen nur Wasser, erinnerten sich dann aber an das, was unter den Wellen lag. Schildkröte saß an der Oberfläche von Wasser fest, da sie Giizhigookwe trug und sie nicht sich selbst überlassen konnte. Die Wasservögel tauchten nacheinander in die Tiefe, doch gelang es ihnen nicht, Erde auf dem Meeresboden zu erreichen. Biber, Frosch und Schlange versuchten es, scheiterten aber ebenfalls. Als es schließlich keine Hoffnung mehr zu geben schien, bot Kleiner Bisam seine Hilfe an (S. 166, Abb. 1). Niemand hatte großes Vertrauen in seine Fähigkeit, tief zu tauchen. Dennoch atmete er tief ein und tauchte in das Blau hinab. Bisam war sehr lange verschwunden und die Tiere nahmen an, dass er ertrunken wäre. Sie begannen, um ihn zu trauern. Aber genau dann teilte sich die Wasseroberfläche und er kam hervor. Die Lungen der tapferen Ratte waren voller Seewasser, doch in seiner geschlossenen Faust hielt Bisam die Erde, die für die Erschaffung eines Zuhauses für den Neuankömmling benötigt wurde. Die Tiere brachten Bisam eilends zu Giizhigookwe, die Wasser aus seinen Lungen sog, bis er wieder Luft holen konnte. Sanft nahm sie den Erdklumpen aus seiner kleinen Faust und verteilte ihn auf dem Rücken von Schildkröte. Als Giizhigookwe sich bewegte, fiel die Saat der Möglichkeiten aus den Taschen ihres Kleides, und im Laufe der Zeit wurden aus dem Schoß der Himmelsfrau auch zwei Menschenkinder geboren und fielen auf Land.

 

Wie andere Manitus personifiziert Giizhigookwe Möglichkeiten und ihre Geschichte ebnet den Weg zu einer Fülle von Bedeutungen. In sie eingebettet ist die geheimnisvolle Produktivität von Zufall und Irrtum, die Unvermeidlichkeit gelegentlichen Scheiterns trotz guter Absichten, der Mut, klein zu sein inmitten eines Meeres der Ungewissheit, die Zusammenarbeit verschiedenartiger Gemeinschaften im Hinblick auf ein gemeinsames Ziel und die Akzeptanz der Tatsache, dass man nicht in frühere Zeiten zurückkehren kann. Der Pfeil der Zeit taumelt durch den Raum, bewegt sich aber dennoch voran. Jede dieser Lektionen findet ihren intensiven – und erschreckenden – Widerhall in unserer Zeit.

 

Die Fresnel-Linse in Julian Charrières Videoarbeit Midnight Zone (2024), die durch schwarze, horizontlose ozeanische Tiefen reiste, offenbart die Herrlichkeit des Lebens unter Wasser. Dadurch werden auch die Möglichkeiten einer harmonischen Existenz enthüllt, ähnlich der, die Himmelsfrau und ihre Erdmutter anstrebten. Die Linse, die der Geborgenheit ihres Leuchtturms entzogen wurde, wird durch das Eintauchen verletzlich. In dieser neuen und doch uralten Umgebung ist das Ergebnis ungewiss. Das Licht, das von der wie ein Diamant geschliffenen Linse ausgeht, entlarvt Neugier als ursprünglichen Sinn, ablesbar am Verhalten der Fischschwärme, die das Objekt umkreisen, als hätten sie sich auf eine Umlaufbahn um diesen neuen Satelliten begeben. Zuschauer*innen, die die Videoaufnahmen vom Absinken dieser litoralen Entität betrachten, fragen sich, ob sie jemals zur Oberfläche zurückkehrt, und wenn ja, welche neuen Erkenntnisse, neuen Potenziale und Möglichkeiten sie vom Meeresboden mitbringen würde.

 

Ein Aspekt, der durch die Linse zu Tage tritt, ist die Bekräftigung von George Batailles Aussage, dass wir uns stets von leuchtenden Dingen hinreißen lassen.[3] Julian Charrières Linse geht jedoch noch einen Schritt weiter: sie beleuchtet, dass wir mit unserer Faszination für das Licht nicht allein sind – ganz und gar nicht. Umgeben von der Neugier der Meerestiere erweist sich die Linse als oszillierendes Auge, das sich der gänzlichen Abwesenheit einer unbelebten Leere in ozeanischen Räumen öffnet.

 

Weiterhin dient das Absinken der Linse, die Unheimlichkeit von Licht, wo keines sein sollte, als Metapher für eine post-aufklärerische Untersuchung der Natur von Ozean.

 

In seinem Buch Ocean (2020)[4] bindet Steve Mentz, ein Vertreter der Blue Humanities, der „blauen Geisteswissenschaften“, die ozeanische Doppelnatur in die Struktur der Publikation ein. In jedem Abschnitt werden zwei gegensätzliche Seiten der Art und Weise von Ozeans In-der-Welt-Sein einander gegenübergestellt: Ihre Ebben und Fluten, Reflexion und Absorption. Der Autor eröffnet seine Abhandlung mit der Leitfrage, ob das Wasser von Erde außerirdisch ist oder zu ihrem Inneren gehört, das heißt, ob Ozean aus den Tiefen einer sich noch ausformenden Erde hervortrat oder ob Wasser durch die Landungen unzähliger extraterrestrischer Entitäten – wie Meteoren und Kometen – entstand. Für Mentz weist die Dualität von außer- oder innerirdischer Herkunft nicht nur auf wissenstheoretische Grenzen oder wissenschaftliche Unentschlossenheit hin, sondern auf das eigentliche Wesen Ozeans, Leben zu geben und zu nehmen, zu verwunden und zu heilen, mitschuldig und handlungstragend zu sein.

 

Hat man Midnight Zone gesehen und Giizhigookwes Geschichte gehört, kann die spontane Antwort auf Mentzʼ Frage nur lauten, dass Ozean natürlich beides ist: außerirdisch und dem Erdinneren entstammend. Julian Charrière führt einen kleinen menschengemachten Pulsar in die Schwärze tiefen Wassers ein, während die Geschichte der Ojibwe von einer außerirdischen Entität erzählt, die Leben auf Erde bringt und zugleich anerkennt, dass es hier bereits Leben gab und dass dieses seinen Ursprung im Wasser hatte. Die Binarität von außer- und innerirdischer Herkunft zurückzuweisen, würde jedoch bedeuten, die wesentliche Existenz von Mond zu ignorieren. Der einzige Trabant unseres Planeten ist die Tochter von Mutter Erde und wurde ihr gewaltsam, wie bei einer schwierigen Geburt, entrissen. Mond zieht und zerrt am wassergefüllten Herz von Mutter Erde, bis sie es nicht mehr aushalten kann. Als Giizhigookwe durch einen Krater rutscht und zur Erde stürzt, fällt sie in die Arme ihrer Mutter – oder wird dorthin zurückgezogen –, selbst wenn sie sich radikal von dem Wesen unterscheidet, aus dem sie geboren wurde. Vielleicht wollte Mutter Erde die Geburt ihrer Enkelkinder erleben, sie bei ihrem ersten Bad halten, den Niederschlag des Fruchtwassers aufnehmen, durch das sie in der Gebärmutter ihrer Tochter am Leben erhalten wurden. Diesem Bericht zufolge kann Ozean nur als Urzustand von Erde angesehen werden. Ozeans Indigenität sollte Grund genug für ihre Souveränität sein.

 

Postkoloniale Bedingungen brachten in den 1960er-Jahren gleichzeitig Bürgerrechts- und Umweltschutzbewegungen hervor, ein Hinweis auf die wiedererwachte Einsicht, dass das eine nicht von dem anderen zu trennen ist. Mit der Zeit hat das Thema der Wassernutzungsrechte langsam, aber stetig an Bedeutung gewonnen – und zwar infolge der Walfangindustrie, deren Auswirkungen von populären Schriftsteller*innen wie Farley Mowat weiten Kreisen verständlich gemacht wurden. Mowats Buch A Whale for the Killing (1972)[5] stand in der Tradition von Rachel Carsons viel gelesenen Veröffentlichungen über die poetische Ökologie Ozeans sowie die industrielle Umweltbelastung, die die Musik von Mutter Erde zum Verstummen zu bringen drohte.[6]

 

Als etwas paradox muss gelten, dass diese Symphonie in den Unterwasserfilmen von Jacques Cousteau, die ebenfalls zu dieser Zeit entstanden sind, als lautlos dargestellt wurde. Jene frühen Filme präsentierten die wassergebundenen Schönheiten und Tragödien der Tiefe, stellten sich das Meer aber als ein dunkles, schauerliches Reich ohne Ton vor – als einen fremdartigen unterseeischen Raum, in dem die Gefahren des außerirdischen Raums einen Widerhall fanden. Dennoch riefen diese Filme beim Publikum Ehrfurcht hervor, die Öffentlichkeit wurde auf das Außergewöhnliche des ozeanischen Lebens aufmerksam und neue Generationen von Ozeanograf*innen, Meeresbiolog*innen und Unterwasserarchäolog*innen fühlten sich inspiriert.

 

Cousteaus Meer mag eine stille Welt sein, eine scheinbar sonnenlose Welt, wie aber Taucher*innen wissen, existiert Ozean nicht ohne Mond. Cousteaus Team aus maskierten und Druckluft atmenden Aquanaut*innen, die beschwingt durch das große Blau drifteten, waren Vorbot*innen der Astronauten, die die ersten Fußabdrücke auf Monds staubiger Oberfläche hinterlassen würden. Einer dieser Astronauten, Bill Anders, sollte – unabsichtlich – Giizhigookwe Perspektive einnehmen: ihren Blick auf Erde in der Ferne während ihres Sturzes von Mond. Anders’ Foto, das den Erdaufgang von Mond aus zeigt (S. 114, Abb. 1), löste – angesichts der Verletzlichkeit unseres blauen Planeten, der in der unbelebten Leere des Weltalls treibt, – unten auf Erde bei Millionen von Betrachter*innen Erstaunen aus. Das Gestirn auf dem Foto und sein unverwechselbares Blau rüttelten hiesige Meeresschützer*innen erneut auf. (Wäre die Himmelsfrau wie Bisam ins Wasser eingetaucht, hätte Ozeans Lebendigkeit sie – anders als die Leblosigkeit des Alls – überwältigt.)

 

Die Bläue ist jedoch – wie die Verschmelzung von Sternenlicht und Schiffsbeleuchtung, wie die Analogie von außerirdischem und unterseeischem Raum – oft nur eine Illusion. Venen, durch die rotes Blut fließt, erscheinen blau aufgrund der Art und Weise, wie das Licht mit Haut und Fett interagiert, das rote Licht streut und das blaue reflektiert. Von Erde aus erscheint Ozean blau, weil andere Farben längere Wellenlängen haben, deren Energie von Wasser in unterschiedlichen Tiefen absorbiert wird. Unterhalb von sieben Metern sieht Blut grün aus; unterhalb von zwanzig Metern ist es blau. Dieses blaue Licht kann noch einmal eintausend Meter hinabreisen, bevor alle Lichter ausgehen und Wasser, Blut und alles andere schwarz werden. Von der unbelebten Schwärze des Weltalls aus erscheint Erde in ihrer Gesamtheit blau, weil Ozean, so gewaltig wie sie ist, alles außer blauem Licht streut und nur dieses reflektiert.

 

Die Reflexion kosmischen Lichts von Ozeans Oberfläche verstärkt sich, wenn sie von kristallinem Meereis bedeckt ist. Blau wird Weiß und wie auf der dunklen Seite eines Spiegels wird in diesen Gewässern auch die Schwärze intensiviert. Julian Charrières Video Albedo (2025), das im Arktischen Ozean aufgenommen wurde, bezeugt, wie das schmelzende Meereis gefrorene Schichten von Zeit und Wetter auflöst, die in einer unergründlich fernen Vergangenheit das Eis erschufen. Wenn Eisberge und Gletscher aufgrund steigender Temperaturen vergehen, wühlt uraltes Eis Gewässer auf, in die zum ersten Mal seit Millionen Jahren Licht eindringt. Wenn äußere und innere Räume aufeinander einwirken, wird plötzlich auf grauenvolle Weise ein ehemals unzugängliches schwarzes Reich freigelegt. Festes verwandelt sich in Flüssiges, Schwarz und Weiß werden zu Blau – auf nahezu alchemistische Weise vermischen sich Schönheit und Schrecken. Und plötzlich erweist sich die Mär von der Ewigkeit als ebenso brüchig wie die Geschichten, die wir uns über das Wesentliche unserer Entdeckungen erzählen. Was tritt in den Prozessen, denen wir beiwohnen, wirklich zutage? Wenn wir, begleitet von dem trauervollen Gesang der Meerestiere in der Tiefe, dem Schmelzen der Eisberge in Albedo und den ertrinkenden Sternenhimmeln biolumineszenter Lebewesen beiwohnen, beginnen wir zu verstehen, dass Ozean ihre Geschichte nicht mehr versteckt oder hinunterschluckt: Sie zeigt uns die Wunden, die innerhalb weniger Jahrhunderte durch Überquerungen, Eroberungen und die Gewalt der kolonialen Expansion entstanden sind – und wie mit der dabei verursachten Erwärmung eine innere Blutung in der Schwärze verursacht wurde.

 

Giizhigookwe erlebte den Albedo-Effekt aus erster Hand und erahnte auch die Finsternis der Auslöschung durch das Meer. Wasser hoben sich ihr entgegen, sogar als sie hineinfiel, sogar als drei Herzen rotes Blut durch ihren Körper pumpten, das grün, dann blau und schwarz zu werden drohte. Wir setzen unberührtes tierisches Leben in seiner wahrhaftigsten Form mit rotem Blut gleich, und so begegnen wir auch dem drohenden Tod. Blut dient als Tor zwischen Leben und Tod, Vitalität und Verwesung; diese salzige, eisenhaltige Flüssigkeit bildet den Übergangsbereich, den jedes Lebewesen durchschreitet, bevor es dem Dunkel der Mitternachtszone erliegt. In der Vorstellung von einem dreistufigen Kosmos, in dem die Unterwelt in den untersten Kavernen und tiefsten Abgründen angesiedelt ist, wo sich Wasser sammelt und Rot in Grün, Blau und Schwarz verwandelt, scheint ein Widerspruch zu dem Glaubenssatz der indigenen Völker Amerikas zu bestehen, dass Wasser Leben ist. In der Erhabenheit des Abgrundes liegt jedoch die vielleicht nie zu heilende Wunde des Erstaunens, die Ehrfurcht vor dem stillstehenden Bewusstsein und darin eine Begegnung mit der ultimativen Quelle, an der Leben und Tod gemeinsam existieren. Dieser Abgrund der Vernichtung in den nicht näher beschriebenen Momenten vor der Verschlingung durch das Unbekannte – Weltgeheimnis, Giizhe Manitu, Wakan Tanka – macht auch die mächtigste Mutter verletzlich.

 

Der menschliche Kontakt mit der abgrundtiefen Mitternachtszone nimmt zu und während dies geschieht, werden stetig weitere Geheimnisse enthüllt, die das Weltbild in Unordnung bringen. Wie Julian Charrières Fresnel-Linse belegt, gefährdet Neugier nicht die Erhabenheit des ursprünglichen Abgrundes. Wenn Videoaufnahmen von Unterseebooten und ferngesteuerten Fahrzeugen aber Chipstüten und Bierflaschen in der Tiefsee zeigen – wie in Charrières Installation The Gods Must Be Crazy (2019) (S. 169, Abb. 2) –, werden wir wieder an Bataille und seine Meditationen über die zahlreichen Sündenfälle der Menschheit erinnert. Im Essay „Das Blau des Himmels“ schreibt er: „Die Natur, die mit dem Menschen niederkam, war eine sterbende Mutter: sie schenkte dem das ‚Sein‘, dessen Auf-die-Welt-Kommen ihr eigenes Zu-Tode-Kommen war.“[7] Ich frage mich, ob Giizhigookwe dem zustimmen würde. Und was ist mit ihrer Mutter, der Wasserwelt namens Erde?

 

Zweifellos werden die Unterwasserartefakte kapitalistischer Exzesse anders wahrgenommen als Wracks alter Schiffe, deren skelettartige Relikte von neuem Leben wimmeln und mikrokosmisch auf das generative Potenzial des Todes hinzuweisen scheinen.[8] Die Ästhetik der Zerstörung in Form so zahlreicher massenproduzierter Überreste des modernen Lebens scheint einen besonderen Charakter aufzuweisen, der die menschlichen Erwartungen an das erschüttert, was eine unverdorbene, unberührte und zeitlose Lebenswelt darstellt. Dieses Bildmaterial hält den Betrachter*innen, die bequem in einem Sessel sitzen, einen hässlichen Spiegel vor; es verstört uns mit unbestreitbaren Beweisen für unsere große Sucht nach Bequemlichkeit und Komfort. Aber wir mögen diese Bedenken nicht und vermeiden daher, allzu lange hinzusehen. Also ändert sich nichts. Übrig gebliebene Fische laichen in schwimmenden Müllinseln, Schildkröten kriechen über gestrandete Wasserflaschen, um ihre Eier abzulegen, Muscheln übersäuern, Korallen bleichen aus, das Geschäft läuft weiter wie immer.

 

Wie lange wird es noch dauern, bis die NASA – immer auf der Suche nach außerirdischem Leben – ihre Trümmer im Ozean des Jupitermonds Europa versenkt? Währenddessen sind wir hier von Leben umgeben, das sich durchkämpfen muss.

 

Ausgemusterte Raumschiffe werden nach Point Nemo in der unbewohnten Gegend im Südpazifik verfrachtet, an den – mathematisch gesehen – abgelegensten Ort auf Erde.[9] Sobald sie aus der Umlaufbahn genommen werden, fallen die maroden Raumfahrzeuge durch die blauen Lüfte und prallen bei Port Nemo auf das Wasser, wo die Wahrscheinlichkeit einer Auswirkung auf Menschen so abwegig und fern ist wie der GPS-Punkt im Südpazifik vom Festland. Nach der Kollision mit der ozeanischen Oberfläche sinken Teile des Weltraumschrotts durch ein anderes Blau ungefähr vier Kilometer hinunter bis zum Meeresboden, wo sie – wie im All – wieder in Schwärze gehüllt werden. Gäbe es in dieser Tiefe Licht oder würde eine Fresnel-Linse dort hinabgelassen, könnten die silbrigen Materialien des Orbitermülls irrtümlich für zerstörte Leiber großer Fische gehalten werden, deren Schuppen den langsamen Tanz des Lichts in der Tiefe spiegeln. Vielleicht würde bei einer ausreichenden Anhäufung dieser verstümmelten Körper sogar das Sonnenlicht wieder reflektiert werden und damit in Erdes Gedächtnis den Platz des albedischen Meereises einnehmen, das unter industriellem Einfluss so stark erwärmt wurde, dass es sich in Wasser zurückverwandelte. Mit der Zeit könnte der Friedhof der Raumschiffe aus dem Wasser heraus auftauchen – Raumstation über Starlink-Satellit – und eine neue metallische Insel bilden. Anstelle von Schildkröte würde diese Insel aber Nemo sein – niemand. Keine Menschenseele.

 

Ein hypothetisches Durchbrechen der Wasseroberfläche durch verendete Raumfahrzeuge erscheint als logische Folge von Jahrhunderten kapitalistischer Tradition und Industrie. Schiffsfriedhöfe in aller Welt drängen sich mit rostigen Stahlfingern durch den unheiligen Schmutz industrieller Abfälle; hohe Schornsteine von ausrangierten Dampfern exhumieren sich selbst, wenn sie sich bei Ebbe aus dem Wasser erheben und alle Vorbeikommenden daran erinnern, dass nicht alles, was in die Wasser des Vergessens geworfen wird, auch unbedingt dort bleibt. Anders als im Weltraum gibt es auf der Erde keine Unendlichkeit, kein „ewiges Meer“ und also auch kein wirkliches Vergessen. Daher verschwinden weggeworfene Abfälle nie so ganz: Es gibt kein „weg“, wohin Müll geworfen werden könnte.[10] Der Wasserkreislauf mag kontinuierlich sein, aber der Mythos von der Endlosigkeit des Meeres muss über Bord geworfen werden. Macht man aus der Verb List des Künstlers Richard Serra[11] von 1967 eine Müllversion, zeigt sich Abfall als aktiver Beteiligter, nicht als etwas, das sich in Luft auflöst, sobald es dem Blick – oder dem Licht – entzogen wurde.

 

vergeuden

wegwerfen

vernichten

vermüllen

anhäufen

driften

treiben

wehen

sich verfangen

strangulieren

töten

speisen

wirbeln

anschwemmen

abtrennen

verfaulen

wiederkäuen

stauen

blockieren

kleben

fließen

anlanden

begraben

zerfallen

würgen

ersticken

fangen

verstecken

anhäufen

blähen

wabern

ausstreuen

verdichten

vermehren

versinken

liegen bleiben

 

Anders als es bei den ersten Begriffen auf der englischen Version dieser Verbliste – „to waste“, „to trash“, „to ruin“, „to litter“ – der Fall ist, hat das Substantiv „refuse“ (Müll) eine völlig andere Bedeutung als das Verb „to refuse“ (ablehnen, verweigern). Wie von der den Mohawk angehörenden Wissenschaftlerin Audra Simpson herausgearbeitet wurde, hat „to refuse“ mit „refusal“ gemeinsam, dass ein energisches Beharren darauf ausgedrückt wird, ein bestimmtes privates oder heiliges Wissen für sich zu behalten. [12] Das Substantiv „refuse“ hingegen ist – neben einer gewissen Arglist – durch Ausbreitung und einen extremen Mangel an Privatheit gekennzeichnet. Und doch sollte das Übermaß an „refuse“, also Abfall, in dem wir Erdenbürger*innen leben und atmen, ein Hinweis für uns sein, „to refuse“, uns zu verweigern und zu erkennen, wann wir aufhören müssen.

 

Stattdessen – und darin liegt eine bittere Ironie – scheint die immer länger werdende Liste der vielfältigen Weisen, in denen der Müll sich ausdrückt, die Leere gefüllt zu haben, die durch die Auslöschung so vieler verb-basierter Sprachen der amerikanischen Ureinwohner*innen und anderer indigener Völker hinterlassen wurde. Ihr langsamer Tod machte für all diese überflüssigen Möglichkeiten Platz. Nur eine davon ist, den Schoß der Erde in eine Senkgrube zu verwandeln, wo die Überreste von maroden Wasser- und Raumfahrzeugen neben ausgewaschenen Ewigkeitschemikalien, Junkfood-Verpackungen und Bierflaschen in der Finsternis ruhen.

 

Wie es aber bei allen weiblichen Räumen der Fall ist, deren Souveränität von patriarchalischen, politischen und religiösen Institutionen unterminiert wird, beschreibt das, was in Ozean versenkt und dort vergessen wurde, nur die eine Hälfte des Vergehens; die andere liegt in der eigenmächtigen unbefugten Inbesitznahme dessen, was in den Tiefen liegt.[13] Es scheint, als ob die Tüten, Flaschen und all die anderen Überreste von einst begehrten Dingen als Tauschobjekte für die Gewinnung von Öl, Kobalt, Nickel und polymetallischen Knollen aus dem dunklen Meeresboden gedacht sind. Hier lässt sich leicht eine Analogie zu den Papierblättern feststellen, die in heuchlerischer Absicht gegen riesige Landflächen getauscht wurden, ohne dass jemals die Absicht vorlag, das, was auch immer auf dem Papier stand, einzuhalten. Die meisten der indigenen Vorfahr*innen konnten es sowieso nicht lesen und die, die dazu in der Lage waren, taten es ab. Die können das nicht ernst meinen, dachten sie. Man weiß, dass man Land nicht besitzen kann, egal ob Bäume darauf wachsen, Algen, Seetang oder polymetallische Knollen. Also okay, klar, fein, wašté[14].

 

Wäre die Abfolge der Ereignisse anders – was würde Bisam in seiner kleinen geballten Faust an die Oberfläche bringen? Ein Plastiglomerat (S. 170, Abb. 3)?

 

Im Englischen sprechen wir oft von Tiefe im Zusammenhang mit Verworfenheit, Verzweiflung und Perversion. Wir tauchen in den Wahnsinn hinab. Wie Bataille vor Jahrzehnten erläuterte, sind dies die geheimen Grundlagen des Seins, wo Finsternis verborgen ist, aber auch die Quellen des Lebens mit allen Freuden und Qualen zu finden sind. Dieses Oszillieren ist in Midnight Zone als abgründige Oszillation zwischen Licht und Dunkelheit wahrzunehmen. Während dualistische Glaubenssysteme Dunkelheit als Gegensatz zum Licht verstehen, und zwar mit moralischen – und nicht zu vergessen rassistischen – Implikationen, bezeugt die absinkende Fresnel-Linse eine weniger eindeutige Realität, in der dasselbe Objekt gleichzeitig umweltbelastend und zerstörerisch, aber auch erhellend und wundersam sein kann.

 

Die Schande liegt weder in der Tiefe noch im Dunkeln. Wenn überhaupt macht sie sich breit, sonnt sich in einem falschen Gefühl der Freiheit und vergisst ihre Pflichten gegenüber Land, Wasser, Vorfahr*innen, Kindern. Und ebenso sind auch tiefe dunkle Wasser keine Orte des Vergessens, sondern vielmehr der Erinnerungen – alter Erinnerungen, die innig und tief bewahrt werden, aber so machtvoll sind, dass sie nicht jederzeit ohne ernsthafte Konsequenzen offengelegt werden können. Bisam wusste alles über das Leben nach der Tiefe, und als er erwachte, erinnerte er sich, warum er so viel riskiert hatte.

 

Und er wusste, dass es sich gelohnt hatte.

 

 

[1] Diese Geschichte stammt nicht aus meiner eigenen Kultur; ich gehöre den Waccamaw Indian People an, einer östlichen Sioux-Stammesgruppe. Diese Stammesgruppe ist nicht mit den Irokesen- oder Algonkin-Gemeinden verwandt, die die Geschichte von Himmelsfrau durch mündliche Überlieferung bewahrt haben. Ich habe versucht, die Geschichte hier mit Respekt gegenüber denjenigen zu erzählen, die sie über die Generationen hinweg weitergegeben und dadurch am Leben erhalten haben. Weitere Informationen zu ihrer Bedeutung finden Sie in: Vanessa Watts, „Indigenous Place-thought and Agency amongst Humans and Non-humans (First Woman and Sky Woman Go on a European World Tour!)“, in: Decolonization: Indigeneity, Education & Society, 2, Nr. 1, 2013, S. 20–34.

[2] Anm. der Übersetzerin und des Lektorats: Gemäß den Glaubensvorstellungen der nordamerikanischen Stammesvölker sind Mond, Erde, Land und Ozean wie auch alle Tiere beseelte Wesenheiten. Deswegen werden ihre Bezeichnungen von der Autorin als Eigennamen behandelt, wobei Ozean weiblich ist.

[3] Georges Bataille, „La limite de l’utile“, in: Œuvres complètes, VII, Paris 1976, S. 1–134; Visions of Excess. Selected Writings, 1927–1939, Minneapolis 1985; Die innere Erfahrung, München 1999.

[4] Steve Mentz, Ocean, New York/London 2020.

[5] Deutsche Ausgabe: Farley Mowat, Moby Joe darf nicht sterben. Kampf um einen Wal, Rüschlikon-Zürich 1973.

[6] Rachel Carson, Unter dem Meerwind, Zürich 1947; Geheimnisse des Meeres, München 1952; Am Saum der Gezeiten. Eine Küstenwanderung, München 1957; Der stumme Frühling, München 1962.

[7] Georges Bataille, „Das Blau des Himmels“, in: Die innere Erfahrung, München 1999, S. 109–115, hier S. 110.

[8] Vgl. die ausführliche Erörterung in: Sara A. Rich, Shipwreck Hauntography. Underwater Ruins and the Uncanny, Amsterdam 2021.

[9] Cullen Murphy, „Point Nemo, the Most Remote Place on Earth“, in: The Atlantic, 11. Oktober 2024.

[10] Vgl. auch: Brian Thill, Waste, New York/London 2015.

[11] Richard Serra, Verb List (1967), online: https://www.moma.org/collection/works/152793 [12.02.2025].

[12] Audra Simpson, Mohawk Interruptus. Political Life across the Borders of Settler States, Durham, NC/London 2014.

[13] Vgl. Max Liboiron, Pollution Is Colonialism, Durham, NC/London 2021.

[14] Der Ausdruck „wašté“ bedeutet in Lakota „gut“.