Unterwasserlicht: Eine reflexive Ästhetik für Geschöpfe des Anthropozäns

Stacy Alaimo

In Jeff VanderMeers Science-Fiction-Roman Auslöschung berichtet eine Biologin von einer Expedition in „Area X“, einem Ort, dessen Umwelt starken Schaden genommen hat, an dem es aber von merkwürdigen, hoch entwickelten Wesen wimmelt. Ein Bauwerk „bohrt sich […] in die Erde“, seltsamerweise nimmt die Biologin es als Turm wahr. Sie verbindet diesen umgekehrten „Turm“ gedanklich mit einem Leuchtturm, der in der Nähe an der Küste steht. Als sie in den Turm hinuntersteigt, bemerkt sie, dass sich an den Wänden Worte ausformen, die aus geheimnisvollen Pilzen hervorsprießen. Sie erkennt, dass das Gebäude atmet, dass es „in gewissem Maße ein lebendiges Wesen“ ist, und dass sie und ihre Kolleginnen „dabei [sind,] in einen Organismus hinabzusteigen“.[1] Später beginnen die Worte zu lumineszieren, und die Naturwissenschaftlerin verschmilzt mit ihrer Umgebung. Sie kann sich nicht länger „separieren, keinen Abstand halten“ von dem, was sie eigentlich analysieren soll, weil umschlingende, lebendige Kräfte an diesem Platz die wissenschaftliche Objektivität zu einem „Fremdwort“ machen.[2]

Obwohl Auslöschung an Land spielt, geht der Roman nicht nur auf das Leben in der Tiefsee, auf Biolumineszenz und unbekannten Arten ein, sondern vermittelt auch eine dramatische Darstellung davon, wie das Eintauchen – das Hinabsteigen in geheimnisvolle, biologisch außergewöhnliche Zonen – die vorherrschenden onto-epistemologischen Orientierungen aufhebt. Es ist nicht länger möglich, Distanz zu anderen Lebewesen aufzubauen, sie zu kategorisieren und zu objektifizieren. Der Turm wird als lebendes und atmendes Wesen wahrgenommen, er beherbergt kommunikative Lebensformen und verzerrt alle extraktivistischen Absichten, denn hier gibt es keine tote Materie, nichts, was dem Menschen als Ressource von Nutzen sein kann. Es ist unmöglich, das Ausmaß der Lebendigkeit und Intelligenz zu eruieren oder vorweg zu definieren. Diese tiefreichende Wahrnehmung einer beseelten Welt ist in den Bräuchen und Philosophien vieler indigener Kulturen zu finden. Während die Ehrfurcht vor Lebewesen, die eine beseelte Welt bewohnen, indigenem Gedankengut verpflichtet ist, versinnbildlichen die merkwürdigen Geschöpfe und unerwarteten Wirkkräfte in Area X, die möglicherweise infolge von „Experimente[n] auf der Militärbasis“ entstanden sind, ein postnaturalistisches Anthropozän.[3] Dies ist jedoch kein Anthropozän, das sich von einem Ort weit oberhalb der zerstörten Stätten betrachten ließe, sondern eine Immersionszone, in der der Mensch in miteinander verbundenen Netzwerken von Wesen und Orten aufgeht. Die auf Science-Fiction spezialisierte Kultur- und Medienwissenschaftlerin Sherryl Vint merkt an, dass die Protagonistin des Romans „mehr Empathie gegenüber Lebenswelten als Menschen“ empfinde und schließt daraus, dass dies eine „Neuorientierung unseres Verständnisses des Lebens – weg von einer Fokussierung auf Organismen und hin zu einer Konzentration auf Verflechtungen – ermöglicht“.[4] Passend dazu sind die beiden letzten Kapitel von Auslöschung mit „Versenkung“ und „Auflösung“ betitelt – die Naturwissenschaftlerin hat Sporen eingeatmet und beginnt, mit diesem geheimnisvollen, sich immer weiter entwickelndem Ort zu verschmelzen. Erfahrungen des Versinkens – eher im Sinne des Hinabsteigens als der Transzendenz – implizieren eine kritische Sicht auf Leuchttürme und ihre Funktion, zu beleuchten, zu leiten und die Grenzen zwischen Land und Meer sichtbar zu machen. Das schwindelerregende Erleben der Biologin beim Eintauchen in diese postnaturalistischen Reiche wirft Fragen auf, wie man radikal veränderte, aber doch lebendige Geschöpfe innerhalb ihrer Lebenswelt wahrnehmen, ihnen begegnen und von ihnen verwandelt werden kann. Kann das Versinken weniger ausbeuterische Methoden der Onto-Epistemologie aufzeigen – Wege des Se und Wissens, anhand derer sich eine Form der Anteilnahme für die Geschöpfe in den Meeren des Anthropozäns entwickeln lässt?

Der Leuchtturm wird gestürzt

Für das fiktive, in einer Dystopie angesiedelte Gelände namens Area X in seiner Southern-Reach-Trilogie ließ sich Jeff VanderMeer vom St. Marks National Wildlife Refuge in Florida inspirieren; zu ihm gehört auch ein Leuchtturm, der 1830 fertiggestellt wurde und Schiffe daran hindern sollte, auf Grund zu laufen (S. 51, Abb. 1). Der Handelsverkehr, zu dessen Schutz der Leuchtturm gebaut wurde, stützte sich auf die Arbeit versklavter Afrikaner*innen und war mit der Ermordung und gewalttätigen Vertreibung indigener Völker verbunden. Fünf Jahre nach der Fertigstellung des Gebäudes begann tatsächlich der Zweite Seminolenkrieg, einer der „Indianerkriege“, in dessen Verlauf es auch zu Angriffen auf Leuchttürme kam.[5] Diese Bauwerke stellen ein Versprechen der Sichtbarkeit dar und damit für manche eine Sicherheitsgarantie, für andere jedoch ein Herrschaftszeichen. Weiterhin sind sie ein Ausdruck der Kontrolle über Naturgewalten und ein Zeugnis der miteinander verwobenen Entwicklungen von Kolonialismus, Siedlungskolonialismus und Umweltzerstörung. Mit ihrer Beleuchtung der Meeresoberfläche weisen Leuchttürme auch darauf hin, wie kapitalistische Unternehmungen mit ihren eng gefassten utilitaristischen Grundsätzen die Mehrdimensionalität der Ozeane und die Lebenswelten unter der Oberfläche ignorierten – für sie war die See eine horizontale, allein dem Transport dienende Fläche.[6] Auch so ikonische Meeresdarstellungen wie die Gemälde des englischen Malers J. M. W. Turner (1775–1851) geben die Oberfläche des Meeres wieder, auf der Schiffe von enormen Winden und Wellen hin- und hergeworfen werden – eher eine Dramatisierung der machtvollen Elementargewalten denn eine wohlwollende Wiedergabe maritimen Lebens. Als hoch aufragendes Gebäude, das eine klare Sicht auf entfernte Oberflächen von Meer und Küste erlaubt, symbolisiert der Leuchtturm zum einen die vertikale Struktur westlicher Epistemologien, die die Distanzierung als wertvollen Weg zur Objektivität erachten. Zum anderen versinnbildlicht er gewisse dem „gesunden Menschenverstand“ verpflichtete Ideologien, denen zufolge allem, was hoch ist, Macht, Tatkraft und Transzendenz innewohnt, während Niedriges als überfordert, geschwächt, trübe und undurchsichtig gilt. Vertikale Weltanschauungen dieser Art sind so weit verbreitet, dass die Welt der weißen westlichen Siedlerkolonialist*innen davon durchdrungen ist, ohne dass es ihnen bewusst wäre. In ihrer Kritik an dem „göttlichen Trick, alles von nirgendwo aus sehen zu können“, setzt Donna J. Haraway sich für eine „feministische Objektivität“ ein, die „von begrenzter Verortung und situiertem Wissen“ handelt, keine „Spaltung in Subjekt und Objekt“ vornimmt und es uns ermöglicht, „eine Verantwortlichkeit dafür zu entwickeln, zu welchem Zweck wir zu sehen lernen“.[7] Ähnlich beschreibt Macarena Gómez-Barris den vertikal geprägten Blick in ihrem Buch The Extractive Zone: Social Ecologies and Decolonial Perspectives als eine „extraktive Sichtweise“, die Gewalt gegenüber Menschen und mehr-als-menschlichen Wesen akzeptiert: „Die visuellen Regeln des Kolonialismus normalisierten eine extraktive Sichtweise auf den Planeten, die die kapitalistische Expansion weiterhin erleichtert, insbesondere in den ressourcenreichen Territorien der Indigenen“. Kurz gesagt, „machte die vertikale Betrachtungsweise die gewaltsame Vertreibung zu etwas Normalem“.[8] Auch horizontale Perspektiven, wie man sie in der traditionellen Landschaftsmalerei findet, können das kolonisierende Auge schulen, wenn ihre Bilder ausgedehnter Landschaften neue Territorien visuell zur Erforschung öffnen. Das pelagische Reich der Ozeane jedoch bietet keine Orientierungspunkte und eignet sich nicht für Darstellungen, die dreidimensionale Breite und Tiefe suggerieren. Es vermittelt den Betrachter*innen einen nur flachen, begrenzten Bereich des Sichtbaren, präsentiert sich mit einer vertrauten und unmittelbaren Direktheit, die paradoxerweise auch von der erstaunlichen Größe der Meere zeugt.

In seiner Videoarbeit Midnight Zone (2024) nimmt Julian Charrière sein Publikum von der Meeresoberfläche aus mit in die Tiefe – durch blaues Wasser hindurch, das sich mit dem Absinken der Kamera zu Schwarz verdunkelt. Die Zuschauer*innen erhaschen flüchtige Blicke auf Strahlen von rotierendem Licht, die von hypnotischen Klängen begleitet werden. Das Licht kreist und beleuchtet winzige, im Wasser schwebende Organismen und Partikel, den Materiereichtum dieser Umgebung, eine Melange von Organismen, die neben nicht identifizierbaren, vielleicht anthropogenen Substanzen wie Mikroplastik treiben. Schimmernde Lichter, die von den Partikeln im Meer reflektiert werden, lassen an einen aquatischen Kosmos mit Sternenkonstellationen denken. Eine greifbare, unmittelbar vertraute Direktheit weicht der Besinnung auf die Größe und Unendlichkeit ozeanischer Welten. Eine solche Maßstabsverschiebung, das spekulative Schwanken zwischen vorläufigen Verortungen und immensen zeitlichen und geografischen Ausdehnungen – ob zu Wasser oder zu Lande –, ist das Vorspiel einer Ethik und Politik, die auf unsichtbare Verflechtungen des Technokapitalismus reagieren, in die eine Vielzahl von Geschöpfen und ihre Biome verwickelt sind.

Im Video Midnight Zone tauchen prachtvolle Fische im Blickfeld auf und verschwinden wieder – glückliche, flüchtige Sichtungen von Geschöpfen, die manchmal leuchten, manchmal kaum wahrnehmbar sind. Mit harschen und grellen Strahlen hat das Licht des Leuchtturms seinen Auftritt in dieser Szenerie. Es wirkt fehl am Platz, die Fische fliehen jedoch nicht, sondern beginnen, das Licht zu umkreisen. In herkömmlichen Naturdokumentationen wie der BBC-Serie Unser blauer Planet wird die für die Aufnahmen benötigte Technik üblicherweise verborgen, sodass eine unsichtbare, aber unüberwindliche Barriere zwischen der Natur der Meere und der Kultur der Menschen entsteht, die dem Schwelgen in anachronistischen Vorstellungen vom Entdecken Vorschub leistet – Vorstellungen, denen zufolge die ozeanischen Reiche keine Schädigung durch menschliche Eingriffe erfahren. In ihrem Buch The Underwater Eye stellt Margaret Cohen fest, dass Unser blauer Planet II die See als „unberührte Natur“ und „naturbelassene Wildnis“ wiedergibt.[9] Beleuchtung und Auflösung zu Beginn der Folge „Die Tiefsee“ von Unser blauer Planet II[10] sind überwältigend und präsentieren die Geschöpfe der Tiefsee in hyperrealistischen, außerordentlich klaren und farbenprächtigen Bildern. Unter Bezugnahme auf eine Veröffentlichung des National Geographic über den Weltraum kritisiert Donna J. Haraway „diese Ideologie der direkten, verschlingenden, generativen und uneingeschränkten Sicht, deren technologische Betrachtungen zugleich gerühmt und als äußerst transparent dargestellt werden“.[11] Diese Ästhetik vermag zwar die Zuschauer*innen unmittelbar anzusprechen, bedient sich jedoch einer Repräsentationsform, die „den Schleier [über der Natur] lüftet“, indem sie unbekannte Geschöpfe beleuchtet und die Spuren des Eingriffs danach beseitigt. Mit derart makellosen ästhetischen Mitteln gelingt es nicht, dem Publikum eine ethische Beziehung zu dem Gezeigten nahezulegen, da die Lebewesen lediglich wie Wunderdinge in einem virtuellen Kuriositätenkabinett wirken und nicht wie Geschöpfe aus einer vom Menschen degradierten Welt.

Indem Julian Charrière in seiner Videoarbeit die Lampe des Leuchtturms offen zur Schau stellt, vertritt er eine reflexive, dem Anthropozän angemessene Ästhetik, in der die Zuschauer*innen sich beim Betrachten einer eigens für sie arrangierten Szene selbst erfahren. Ein derartiges Vorgehen lässt an John Bergers einfache, aber scharfsinnige Frage denken: „Warum sehen wir Tiere an?“ Provokativ behauptet Berger: „Überall verschwinden die Tiere. In Zoos sind sie das lebende Monument ihres eigenen Untergangs geworden.“[12] In Midnight Zone hingegen sind die Fische weder in einem Aquarium gefangen noch in den Rahmen einer Einstellung gezwängt oder von den Lichtstrahlen eingesperrt. Sie schwimmen frei herum, befinden sich mal im Blickfeld, mal außerhalb. In einem Zeitalter, in dem ozeanische Ökosysteme mehrfachen Bedrohungen ausgesetzt sind und eine Vielzahl von Spezies ausgerottet wird, verleiht eine reflexive Betrachtungsweise der Meereswesen dem Video einen anthropozentrischen Anstrich, insbesondere wenn die Strahlen des Leuchtturmlichts auf eine lange Geschichte der Erforschung und Kolonisierung sowie menschengemachten Leids hindeuten. Sowohl wissenschaftliche als auch künstlerische Streifzüge in die Mitternachtszone haben von Menschen verursachte Störungen des Bioms zur Folge. Das grelle Licht der Lampe, die bei ihren Umdrehungen mehrere Lichtstrahlen aussendet, vermag Betrachter*innen vielleicht zum Nachdenken darüber veranlassen, welche Beeinträchtigungen das Meeresleben in den Ozeanen der Welt infolge der zahlreichen menschlichen Eingriffe erfahren hat – zu erwähnen etwa die industrialisierte Überfischung, der Rohstoffabbau, die Kontamination durch chemische und radioaktive Stoffe, die Verschmutzungen durch Plastik und andere Materialien sowie die Erwärmung und Versauerung der Gewässer infolge des Klimawandels. Während populäre Sendungen über die Erkundung der Tiefsee von der Romantik des unerforschten, noch zu erobernden „jungfräulichen Terrains“ schwelgen, leidet der Ozean bereits im Übermaß unter den Folgen menschlicher Großtaten. Wenn sich das Leuchtfeuer dreht, illuminiert es das pulsierende Leben in den Meeren, blendet aber das Publikum periodisch auch mit seiner grellen Intensität. Julian Charrières Video ist ein ästhetisches Vergnügen und ruft Neugier hervor, weist gleichzeitig jedoch auf die Notwendigkeit hin, anhaltende und gängige Formen von Gewalt und Schuld anzuerkennen. Licht scheint unschuldig zu sein, und doch hat es über lange Zeit die Epistemologien der Distanznahme und Objektivierung maßgeblich beeinflusst.

Bei der Betrachtung der Leuchtturmlampe, die sich in den Tiefen dreht, liegt die Frage nahe, wie sie dorthin gekommen ist. Wenn wir unser Wissen über das künstlerische Verfahren, mit dem das Licht für dieses Video erzeugt wurde, einmal ausklammern, könnten wir uns eine Geschichte dazu ausdenken. Vielleicht ist der Leuchtturm zusammengebrochen und in die See gestürzt, von seinem soliden Felsvorsprung gekippt und in genau den Gewässern untergetaucht, über denen er sich erheben und die er demarkieren sollte. Leuchttürme werden gebaut, um Schiffsunglücke zu verhindern. Hier scheint es dem Leuchtturm ironischerweise nicht gelungen zu sein, selbst über Wasser zu bleiben, nicht in der Tiefe zu versinken, er wurde selbst zu einem Wrack. Dies ist eine klassische Erzählung des Anthropozäns – die Natur, der gewisse Menschen Herr werden wollten, schlägt zurück und sorgt dafür, dass sich die Geschöpfe des Planeten in Umwelten verfangen, in denen Gefahren und Verwüstung immer schneller zunehmen. Technische, industrielle, biologische und chemische Veränderungen verursachen etwa den Klimawandel, die Versauerung der Meere, Dürren, Flächenbrände und Todesfälle durch Karzinogene. Wenn der Leuchtturm in die See stürzt, evoziert er – um es mit Steve Mentz’ Worten aus seinem Buch Shipwreck Modernity zu beschreiben – „nasse Narrative, die Unordnung, Orientierungslosigkeit und Brüche verdeutlichen“.[13] Gestörte Ordnungen verkomplizieren die etablierten Routen des globalen Extraktivismus, während der Verlust an Orientierung düsterere Visionen hervorruft, in denen der Mensch nicht mehr über einer externalisierten Entität schwebt, die man Natur zu nennen pflegte. Die vorherrschenden Visionen des Anthropozäns – so der inoffizielle Begriff für die gegenwärtige geologische Epoche, die das massive Ausmaß industrieller, kolonialistischer und kapitalistischer Attacken auf die Biosphäre vor Augen führt –, nehmen durch die Darstellung von Fabriken, Autobahnen, Mastbetrieben und Großstädten zu, als würde man sie von einem ätherischen Reich hoch über der Erde aus betrachten.[14] Im Gegensatz dazu sinkt die Lampe des Leuchtturms in die Mitternachtszone hinab. Wenn das Publikum dort schwebt – ohne einen Horizont oder einen Ausgang im Blick zu haben –, ermöglicht die Begegnung mit einer völlig anderen Biosphäre einen umfassenden und spürbaren Eindruck vom Leben, der unmittelbar, aber nicht begrenzt, vertraut, aber nicht gebändigt zu sein scheint. Sherryl Vint führt aus, dass wir „einen Weg finden müssen, theoretische Vorstellungen vom Leben zu entwickeln, die Lebewesen nicht von ihren Verflechtungen mit und ihren Abhängigkeiten von anderer Materie, inklusive dem Anorganischen, getrennt betrachten“.[15] Die Fische, wie sie schwimmen, kurven und wirbeln, sich dynamisch mit ihrer materiellen Umwelt und durch sie hindurch bewegen, umgeben von glitzerndem Licht, das von winzigen Lebewesen und Partikeln reflektiert wird, illustrieren die Ausführungen von Vint, denn ihr kreatürliches Leben ist in Zonen angesiedelt, denen man am besten mithilfe einer umgestürzten Lampe gegenübertritt.

Unterwasserbilder und die Grenzen des Lichts

Naturwissenschaftler*innen, Kunst- und Filmschaffende haben lange mit der Frage gekämpft, wie sich Meereslebewesen darstellen lassen, die in sonnenfernen Tiefen leben. In meinem Buch The Abyss Stares Back: Encounters with Deep-Sea Life habe ich fast ein Jahrhundert an Beiträgen aus Naturwissenschaft, Literatur, Kunst, Film sowie Videos von Aktivist*innen analysiert, in denen sich das Leben in der Tiefsee auf außerordentlich ästhetische Weise vollzieht.[16] Während es sowohl ein wesentlicher Bestandteil der langen kolonialen Gepflogenheiten des Naturalismus als auch derzeitige Praxis der Meeresbiologie ist, submarine Lebewesen zu Forschungszwecken einzufangen, haben Naturwissenschaftler*innen wie William Beebe bereits im frühen 20. Jahrhundert die Grausamkeit erkannt, die darin liegt, lebende Wesen in tote Präparate zu verwandeln. Für ihn waren Schönheit, Gefühl, Literatur und Kunst der Wissenschaft keineswegs abträglich. In seinen eher populärwissenschaftlichen Schriften hauchte er seinen toten Präparaten sogar Leben ein, dramatisierte ihr Leben und ihre Perspektiven in fantasievollen Narrativen. Beebe engagierte außerdem Illustrator*innen, die die ozeanischen Arten zeichneten und malten, die er sammelte oder auch nur flüchtig erblickt hatte. Die begabte wissenschaftliche Zeichnerin und Künstlerin Else Bostelmann malte Tiefseefische zunächst vor weißem Hintergrund, wechselte dann aber zur Wiedergabe vor einem schwarzen Hintergrund – und zwar auch dann, wenn die Fische schwarz waren. In diesen Fällen verlieh sie den Konturen eine schimmernde Helligkeit. Sie fügte den farbigen Augen der Fische außerdem eine strahlende Weißhöhung hinzu, um auf ihre Lebendigkeit und ihre Blickrichtung hinzuweisen. In den 1930er-Jahren tauchten William Beebe und Otis Barton in ihrer Bathysphäre, einer Tauchkugel, ungefähr 800 Meter in die Tiefen des Atlantiks hinunter. Beebe war vom Farbspektrum der Tiefsee fasziniert, insbesondere von der Veränderung der Farben des Wassers, wenn das Sonnenlicht während des Absinkens der Kugel nach und nach verschwand. Ihm stand nur eine schwache Handlampe mit geringer Reichweite zur Verfügung, um durch das Fenster der Bathysphäre neue Arten zu entdecken und aufzuzeichnen, in welchen Tiefen welche Arten lebten. Ein Gemälde von Else Bostelmann, das in Beebes Buch 923 Meter unter dem Meeresspiegel aufgenommen wurde, präsentiert einen von geometrischen Formen geprägten, der Moderne verpflichteten Einblick in die Tauchgänge der Bathysphäre. Im oberen Drittel wird das Bild von einem diagonal angelegten Rechteck aus Licht durchschnitten. Einige Fische schwimmen durch diesen Lichtstrahl und werden von ihm beleuchtet, andere haben sich aus Beebes Blickfeld entfernt und sind für die Betrachter*innen kaum erkennbar (S. 52, Abb. 2). Das lineare, geometrische Rechteck passt nicht zu dieser kreatürlichen Welt aus gebogenen Mäulern, Augen und Körpern. Die Betrachter*innen des Gemäldes finden sich zudem in den tiefen dunklen Wassern wieder, bei den fast unkenntlichen Fischen. Beebe ist nicht abgebildet, hat aber vermutlich die Lampe in der Hand und lenkt ihren Strahl aus dem Fenster der Tauchkugel heraus. Die Anlage dieser Szene, in der sich die Betrachter*innen in einer eigentlich unmöglichen Position unterhalb der Beleuchtung befinden, verleiht dem Bild eine dramatische Wirkung. Wir schweben in einer unbewohnbaren Zone und scheinen dort auf nur vage wiedergegebene Fische zu treffen, die auch jetzt – fast ein Jahrhundert später – noch nicht identifiziert sind. Der Lichtstrahl, der einige Fische nur fragmentarisch beleuchtet und an anderen vorbeigeht, hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem in Julian Charrières Video Midnight Zone. In Bostelmanns Gemälde wie in Charrières Videoarbeit ist er begrenzt, doch um ihn herum schwimmen Fische. Hier wird keine perfekte, freie und allumfassende Sicht auf diese speziellen Geschöpfe und ihre Welt geboten, vielmehr wird ihnen durch den Einsatz einer nur bescheidenen und ethischeren Illumination Respekt gezollt.

Ein anderes, recht bekanntes Gemälde Bostelmanns wirft einen dramatisierenden Blick auf die Einschränkungen des Lichts in der Tiefsee. 1934 entstand Bathysphera intacta and bathysphere (S. 53, Abb. 3), das die Tauchkugel in dunklem Wasser abbildet. In einem der kleinen Bullaugen ist ein Gesicht zu sehen, aus einem anderen dringt ein dreieckiger Lichtstrahl nach draußen. Neben zwei enormen Exemplaren der „Unberührten Bathysphärenfische“ wirkt die Bathysphäre verschwindend klein. Das Licht, das aus dem Fenster fällt, kann die Fische, die es umrunden, nicht gänzlich beleuchten, sodass Beebe und Barton keine umfassende Sicht auf sie haben. Dieses fiktive Szenario ermöglicht es dem Publikum, mehr zu sehen als sie. Dabei macht das Bild zwar für die Betrachter*innen Unsichtbares sichtbar, enthüllt jedoch nicht alles, sondern betont, wie viel nicht angestrahlt, erfahren oder verstanden werden kann, sodass der Tiefsee eine resistente Integrität verliehen und ein eigenes Herrschaftsgebiet zugestanden wird. Die Tiefseeansichten in Julian Charrières Video Midnight Zone und Bostelmanns Gemälden führen die begrenzten Anwendungsmöglichkeiten von Licht in der Tiefsee vor Augen: es erlaubt nur partielle Ansichten und fragile, flüchtige Eindrücke – Einschränkungen, die die Neugier wie auch den Respekt gegenüber den Geschöpfen der Mitternachtszone bestärken. Dem Geheimnis der Mitternachtszone Respekt zu zollen, kann eine ethische Herausforderung darstellen; dennoch ist die präzise Formulierung dessen, was es für die Tiefsee bedeutet, für Menschen unergründlich zu sein, von großer Bedeutung – denn das magische Denken stellt die Tiefen als ein separates Herrschaftsgebiet dar, in dem von Menschen verursachte Schäden sich in Unsichtbarkeit auflösen. Astrida Neimanis, die sich mit chemischen Abfallprodukten im zu Schweden gehörenden Gotlandtief in der Ostsee befasst, warnt, dass die Konzeptualisierung des Meeres als „Universalverdünner“ und „reines Anderssein“ es gestatten würde, unsere Verantwortung für anthropogene Schäden zu ignorieren: „Die Substanzen, die in der See verschwinden, werden Teil seiner unbekannten Tiefen – nicht nur vergessen, sondern auch unserem Verständnis vollständig entzogen“.[17] Während menschengemachte Schäden an ozeanischen Ökosystemen wissenschaftlich erfasst, untersucht, unterbunden und beseitigt werden müssen, kann sich die unbegreifliche Existenz des Meereslebens auf eine ästhetische Art und Weise präsentieren, die ein Gefühl der Verwunderung weckt, das nicht auf etwas Erkennbares reduziert werden kann. Ähnliches ist bei Michael Marder zu lesen, der vorschlägt, „Pflanzen am Rande oder an der Grenze der Phänomenalität, der Sichtbarkeit und in gewissem Sinne der ‚Welt‘ gedeihen zu lassen“.[18]

Leuchtende Geschöpfe, die sich selbst besingen

In seinem Roman Submergence stellt J. M. Ledgard die provokante Frage: „Hat die Tiefsee sich selbst besungen?“[19] Dieser ästhetische Koan lässt die Leserschaft darüber sinnieren, was es für das ozeanische Leben bedeuten würde, könnte es seine eigenen ästhetischen Modi kreieren und erleben. Eine Art und Weise, wie das Meer sich selbst besingt, ist in der submarinen Biolumineszenz zu finden. Ledgard gibt die Gedanken einer Wissenschaftlerin oder eines Wissenschaftlers wieder, die oder der in die See hinabsteigt: „Im Wasser wimmelte es von biolumineszenten Fischen und Aalen […] Dort unten drückte sich alles über Licht aus: Es war die verbreitetste Kommunikationsform auf dem Planeten.“[20] Dieselbe Begeisterung für die Biolumineszenz wie Ledgards Wissenschaftler*innen lässt auch die Meeresbiologin Edith Widder vernehmen. In ihrem Buch Below the Edge of Darkness weist sie darauf hin, dass das menschliche Überleben davon abhängt, ob durch „Staunen“ „ein stärkeres Gefühl der Verbundenheit mit der belebten Welt“ entsteht, und dass die Biolumineszenz es uns ermöglicht, das Wunderbare in dieser ungesehenen Welt für eine beunruhigend ahnungslose Öffentlichkeit sichtbar zu machen. Die Autorin macht geltend, dass das Staunen die Vorstellungskraft beflügele und sich hieraus ein „Hoffnungsschimmer für das zukünftige Leben auf Erden“ ergebe.[21] Ich stimme mit Widders überschwänglichem Staunen über das biolumineszente Meeresleben überein, finde allerdings ihre Formulierung überraschend anthropozentrisch. In einem Zeitalter massiven Artensterbens und vielfacher und zunehmender Bedrohungen für die ozeanischen Ökosysteme sollte die Sorge um das Überleben nichtmenschlichen Meereslebens nicht dem Schreckgespenst des Untergangs der Menschheit nachgeordnet werden. Die öffentliche Unterstützung für den Schutz der Meere kann sicherlich durch Bilder, Videos, wissenschaftliche Illustrationen und Kunstwerke, die das wunderbare Meeresleben zeigen, befeuert werden; ich halte es dennoch für zwingend notwendig, eine reflexive anthropogene Ästhetik zu entwickeln, die offenlegt, wie konventionelle Epistemologien der Objektifizierung und Distanzierung die globalen Vernetzungen der enormen, wenn auch nicht unbekannten Schäden verschleiern. Zwischen dem verführerischen Bild eines wundervollen Meereslebewesens und dem Bewusstsein, dass diese Kreatur wahrgenommen wird, schwankend, werden Betrachter*innen ermutigt, über die weitreichenden Verflechtungen von Schuld und Verantwortung im Rahmen des globalen Kapitalismus, Extraktivismus und kohlebasierter Ökonomien nachzudenken. Eine reflexive Ästhetik löscht die menschliche Präsenz in den Meeren nicht aus, sondern verlangt die Anerkennung der leuchtenden Wesen in ihren eigenen Welten und hebt gleichzeitig die anthropogenen Veränderungen dieser Welten hervor. Beebe nannte den Fisch, den er durch das Bullauge der Bathysphäre 1930 entdeckte, den „Unberührten Bathysphärenfisch“. Inzwischen, fast ein Jahrhundert später, impliziert das Konzept des Anthropozäns, dass die Ozeane längst von den menschlichen Aktivitäten, wenn nicht sogar von menschlichen Händen, berührt worden sind. Abgesunken, untergetaucht und fehl am Platz, sendet die Leuchtturmlampe in Julian Charrières Videoarbeit Midnight Zone ihre Lichtstrahlen aus und vermittelt kurze Einblicke in das pulsierende Meeresleben, die als eine Inspiration für mögliche, innige Beziehungen zu den Meereslebewesen dienen könnten. Gleichzeitig deutet das abgetauchte Licht darauf hin, dass das ästhetische Vergnügen an der Begegnung mit pelagischen und in der Tiefsee lebenden Geschöpfen bereits mit einer langen Geschichte und langlebigen Methoden der Ausbeutung, Zerstörung und Schädigung verknüpft ist. Die Tiefsee mag sich selbst besingen, mag ihre eigene brillante Ästhetik ausstrahlen, aber die leuchtenden Wesen werden nicht überleben, wenn die privilegiertesten und mächtigsten Gruppen von uns Landbewohner*innen nicht nur die Schönheit, sondern auch die prekäre Existenz dieser Geschöpfe in den Meeren des Anthropozäns bezeugen und zu ergründen versuchen.


[1] Jeff VanderMeer, Auslöschung, München 2017, S. 7 und 52 [im Original kursiv].

[2] Ebd., S. 208 [im Original kursiv].

[3] Ebd., S. 113.

[4] Sherryl Vint, Biopolitical Futures in Twenty-First-Century Speculative Fiction, Cambridge 2021, S. 193.

[5] Vgl. U.S. Fish and Wildlife Service, online: https://www.fws.gov/refuge/st-marks/historic-st-marks-lighthouse [24.02.2025]. Dabei ist zu beachten, dass der auf der Website verwendete Begriff „Indian War“ den indigenen Stämmen implizit vorwirft, die USA angegriffen zu haben, als wären nicht die Vereinigten Staaten der Aggressor gewesen.

[6] Vgl. Phil Steinberg, The Social Construction of the Ocean, Cambridge 2001.

[7] Donna Haraway, „Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive“, in: Dies., Die Neuerfindung der Natur, Primaten, Cyborgs und Frauen. Frankfurt am Main 1995, S. 82.

[8] Macarena Gómez-Barris, The Extractive Zone: Social Ecologies and Decolonial Perspectives, Durham, NC 2017, S. 6.

[9] Margaret Cohen, The Underwater Eye: How the Movie Camera Opened the Depths and Unleashed New Forms of Fantasy, Princeton, NJ 2022, S. 239 und 237.

[10] Blue Planet II (BBC Earth, 2017).

[11] Haraway 1988 (wie Anm. 7), S. 582.

[12] John Berger, „Warum sehen wir Tiere an“, in: Ders., Das Leben der Bilder oder die Kunst des Sehens, Berlin 1981, S. 7–34, hier S. 24.

[13] Steve Mentz, Shipwreck Modernity, Ecologies of Globalization, 1550–1719, Minneapolis 2015, S. 11.

[14] Vgl. Stacy Alaimo, „Your Shell on Acid“, in: Dies., Exposed: Environmental Politics and Pleasure in Posthuman Times, Minneapolis 2016.

[15] Vint 2021 (wie Anm. 4), S. 184.

[16] Vgl. Stacy Alaimo, The Abyss Stares Back: Encounters with Deep-Sea Life, Minneapolis 2025.

[17] Astrida Neimanis, „Held in Suspense: Mustard Gas Legalities in the Gotland Deep“, in: Blue Legalities: The Life and Laws of the Sea, Irus Braverman und Elizabeth R. Johnson (Hg.), Durham, NC 2020, S. 45–46.

[18] Michael Marder, Plant-Thinking: A Philosophy of Vegetal Life, New York 2013, S. 9.

[19] J. M. Ledgard, Submergence, Minneapolis 2013, S. 208.

[20] Ebd., S. 196.

[21] Edith Widder, Below the Edge of Darkness: A Memoir of Exploring Light and Life in the Deep Seas, New York 2021, S. XX.