Der Ruf der Unterwelt
Wir alle haben nächtliche Träume, die uns verfolgen, bis in den Tag hinein nachklingen und jahrelang wiederkehren. In meinem Fall spielen sie sich immer im Meer ab. Mein Unbewusstes scheint dunkle, geheimnisvolle Gewässer mehr zu mögen als kristallklare blaue; nächtliche Schaurigkeit in aquatischer Umgebung hinterlässt bei mir einen Eindruck herrlicher Erhabenheit. In der lichtlosen Tiefe, unter dem Einwegspiegel der Oberfläche, könnte alles Mögliche versteckt sein – und wenn es mich auch in Angst versetzt, möchte ich es doch sehen. Das Verlangen danach zu erfahren, was dort unten zu finden ist, begleitet mich, so lange ich denken kann. Meereswesen, untergegangene Schiffe, verborgene Schätze, verlorene Geschichten – das Obskure des Meeres zieht mich in seinen Bann. Und keine Gefilde sind obskurer für uns als die Tiefsee.
Ab 200 Metern unterhalb der Oberfläche bis zu einer Tiefe von 11000 Metern befindet sich das Reich des größten Geheimnisses der Erde. Vergessen wir den Weltraum – die Autobiografie unseres Planeten ist auf dem Boden des Meeres nachzulesen. Sogar jetzt noch, in einer Zeit, in der wir auf dem iPhone interaktive Karten des Jupiters betrachten können, sind erst 25 Prozent des Meeresgrundes in irgendeiner Form genau kartiert. Was befindet sich dort unten in der Dunkelheit? Wir wissen es tatsächlich nicht. Im Juli 2017 stieß ich zufällig auf einen Zeitungsartikel, der zahlreiche Erkenntnisse lieferte.
Die Schlagzeile war unwiderstehlich: „Suche nach MH370 enthüllt eine verborgene Welt in den Tiefen des Ozeans“.[1] Obwohl 1046 Tage darauf verwendet wurden, den abgelegenen südlichen Indischen Ozean abzusuchen – unter Einsatz von Schleppsonaren, um hochaufgelöste Karten des Meeresbodens von einem Gebiet der Größe Neuseelands anzufertigen –, hatten die Suchmannschaften, die den Flug MH370 der Malaysia Airlines lokalisieren wollten, keinen Erfolg. Sie fanden weder das Flugzeug noch die 239 Passagier*innen und Crewmitglieder. Dem Artikel zufolge machten sie aber eine bedeutende Entdeckung.
Die Karten zeigten, dass der Meeresboden des südlichen Indischen Ozeans auf spektakuläre Weise schaurig schön ist. Eine Symphonie der Extreme wurde sichtbar, eine Liste der größten Hits der Geologie. Es schien, als hätten wir 6,5 Kilometer unterhalb der Wasseroberfläche Tolkiens Mittelerde entdeckt. Zum Vorschein kamen Berge, die höher sind als die Schweizer Alpen, Täler, die das Yosemite Valley klein erscheinen lassen, weit geöffnete Klüfte, senkrechte, abgrundtiefe Klippen, Vulkanfelder, die sich über Hunderte von Kilometern erstrecken. Der Meeresgrund zeigte sich von Narben zerfurcht, die der Superkontinent Gondwana hinterließ, als er zerbrach und sich in Australien, Indien und die Antarktis aufteilte.
Es war ein unterseeisches Geflecht von Nationalparks für Giganten und bislang hatte niemand von seiner Existenz gewusst. Als ich von diesem fantastischen Meeresgrund las, stellte sich mir unweigerlich die Frage: Was verpassen wir noch? Was versteckt sich sonst in dem Abgrund – und warum lassen wir nicht alles stehen und liegen, um es herauszufinden? Wieviel unbekannte Geschichte verbirgt sich dort unten? Wieviel Wissen? Wie viele geologische Wunderdinge? Wie viele unbeschriebene Arten? Was für ein wildes Spektakel spielt sich dort unten ab, während wir hier oben mit fremdfinanzierten Firmenübernahmen, politischem Gezänk und Selfie-Apps beschäftigt sind?
Nichts wäre zu unfassbar. Die Tatsache, dass etwas so Großes wie eine Boeing 777 dort unten liegen und jahrelang (und immer noch) unentdeckt bleiben kann, zeugt von der Unermesslichkeit und geheimnisvollen Ausstrahlung der Tiefsee. Es ist ein Reich der ewigen Nacht mit so enormen Dimensionen, dass es die kartierten, verkabelten und gründlich zertrampelten Kontinente, auf denen wir leben, zwergenhaft wirken lässt. Die Tiefsee nimmt 65 Prozent der Erdoberfläche sowie 95 Prozent der globalen Biosphäre ein.[2] Es handelt sich nicht einfach um einen Teil unseres Planeten – sie ist unser Planet. Man sollte annehmen, dass wir sie gern besser kennenlernen würden.
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Unser gesamtes Wissen über das Meer hat sich lange auf die obersten Wasserschichten konzentriert, auf die ersten 200 Meter, die als Epipelagial bekannt sind. Bis hierhin reicht noch das Sonnenlicht, in dem glitzernden Spektrum an Blautönen tummeln sich hübsche Fische. An diesen Bereich denken die Menschen, wenn sie sich die Unterwasserwelt vorstellen, aber trotz seiner Großartigkeit stellt das Epipelagial lediglich eine Raumdecke dar. Das eigentliche Geschehen spielt sich weiter unten ab.
Das Mesopelagial, das poetischer auch Dämmerungszone genannt wird, liegt direkt darunter. Dieses belebte Reich, das sich zwischen 200 und 1000 Metern Tiefe befindet, beherbergt eine wuselnde Menagerie von Tieren, deren Biolumineszenz sie funkeln lässt. In dieser Tiefseeschicht leben mehr Wesen als in allen anderen Meeresregionen zusammen. Alles, was wir über diese Population wissen, macht deutlich, dass Jules Verne in seinen Beschreibungen des Meereslebens keineswegs fabuliert hat, sondern nicht einmal einfallsreich genug war.
Man könnte hier auf einen Vampirtintenfisch mit blauen Kugelaugen und Armen treffen, die durch Häute miteinander verbunden sind und seinen Körper wie ein Umhang umgeben. Vielleicht driftet eine über 30 Meter lange Staatsqualle vorbei, die giftige Tentakel hinter sich herzieht, eine schimmernde Kette aus Zellen und eines der bedeutendsten Raubtiere der Tiefsee. Beilfische, Drachenfische, Viperfische: sie alle treiben sich mit ihren spitzen Zähnen und ihren fallgrubenartigen Rachen in der Dämmerungszone herum, wie die Nebendarsteller eines Albtraums.
Die meisten dieser Fische sind so winzig, dass sie trotz ihres schrecklichen Aussehens liebenswert wirken. Was ihnen an Größe fehlt, machen sie durch ihre riesige Anzahl wett. So sind etwa die Borstenmäuler – daumengroße Fische, die im Dunkeln leuchten und übergroße Augen und Zähne besitzen – die häufigsten Wirbeltiere der Erde. Wissenschaftler*innen nehmen an, dass im Mesopelagial Hunderte Billionen Borstenmäuler leben, die zahlenmäßig sogar die Menge der Sterne in unserer Galaxie übertreffen.
Jede Nacht steigt eine gewaltige Welle dieser Wesen aus der Dämmerungszone Hunderte von Metern näher zur Oberfläche hinauf. Im Schutz der Dunkelheit sind diese Gäste aus der Tiefe weniger sichtbar, weniger verwundbar, während sie sich in flacheren Gewässern am sonnengenährten Phytoplankton gütlich tun. Noch vor dem Einsetzen der Dämmerung kehren sie zurück in die Tiefe. Diese nächtliche Pendelaktivität ist die größte Tierwanderung der Welt, eine vertikale Migration, die an 365 Tagen im Jahr stattfindet. Indem sie Plankton nahe der Oberfläche aufnehmen, dann wieder nach unten schwimmen und es dort ausscheiden, transportieren sie Kohlenstoff aus der Atmosphäre in die Tiefe, wo er über Jahrhunderte, manchmal sogar Jahrtausende gebunden bleibt. Diese kleinen Tiere versenken eine riesige Menge Kohlenstoff, Schätzungen zufolge 4,4 Milliarden Tonnen jährlich, was der Gesamtemission Amerikas pro Jahr entspricht.
Und sie tun es mit einer solchen Leuchtkraft! Auf dem Land gibt es nur wenige Wesen, die leuchten können – etwa den einen oder anderen Pilz, einige Arten von Regenwürmern, vereinzelte Insekten –, in der Dämmerungszone aber funkelt nahezu jede Spezies. Sie verwenden ihre Biolumineszenz zur Signalgebung, bei der Paarung, zur Tarnung, um Beute anzulocken und Fressfeinde abzuschrecken. Bei den Kreaturen der Dämmerungszone finden sich so viele unterschiedliche Formen des Leuchtens wie Facetten auf einer Discokugel.
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Am 6. Juni 1930 konnten der Naturforscher William Beebe und der Ingenieur Otis Barton als erste Menschen die Lightshow der Dämmerungszone beobachten, als sie in einer Stahlkugel, die sie Bathysphäre nannten, 244 Meter ins Dunkel hinabtauchten. Diese Kugel mit einem Durchmesser von 1,5 Metern hatte zwei winzige Fenster und hing an einem langen Stahlkabel von einem Schiff herab. Man kann sich kaum vorstellen, wie furchterregend diese erste Tauchfahrt gewesen sein muss. Niemand wusste, ob die beiden Männer an die Oberfläche zurückkehren würden. So vieles hätte schiefgehen können. Dinge hätten brechen, versagen, implodieren, jedes Leck hätte tödliche Folgen haben können: Unter dem starken Druck in der Tiefe würde Wasser mit der Gewalt eines Geschosses durch ein Loch gepresst werden. Was, wenn ihnen die Luft ausgegangen wäre, was, wenn die Fenster eingebrochen wären?
Trotz eines beängstigenden Lecks an der Luke und eines Elektrokabels, das in der Kapsel Funken versprühte, war der erste Tauchgang erfolgreich. Die beiden Männer führten in der Folgezeit 33 weitere durch und erreichten eine Tiefe von gut 800 Metern. Beebes Meinung nach war es jedes Risiko wert, wenn man dafür die Dämmerungszone betrachten konnte. Er äußerte sich begeistert über seine Tauchgänge und klang weniger wie ein Wissenschaftler als wie jemand, der sich auf einem LSD-Trip befindet. „Wer jedoch in der Tiefe des Meeres auf Abenteuer auszieht, dem ist ein erdgelöstes Erlebnis beschieden“, sinnierte er und sah das Festland von „furchtbar engen Grenzen“ geprägt.[3]
Allein die Neuartigkeit der Wesen, auf die er hier traf, führte bei ihm zu fassungslosem Staunen. „[…] für alles in diesen Tiefen sind überschwengliche Worte am Platz.“[4] Er berichtete von einer Vierergruppe schlanker Fische – mit zinnoberroten Köpfen, gelben Körpern, pfauenblauen Rücken und den verkleinerten Kiefern eines Alligators –, die sich aufrecht durch das Wasser bewegte, als ob sie sich auf einem Spaziergang befände, sowie von einem unheimlich aussehenden graubraunen Fisch ohne Schwanz. Einmal traf er auf eine „dünne, endlose Seeschlange“, ein anderes Mal auf einen 180 Zentimeter langen Fisch, von dessen „zahlreichen Fangzähnen“ Schleim herabtropfte.[5]
Die unheimlichen Eigenschaften des Lichts erschütterten Beebe bei jedem Tauchgang aufs Neue. In 183 Metern Tiefe ist nur noch der letzte Rest des Farbspektrums zu sehen, eine indigofarbene Glut von brillanter Reinheit. Am Rand der absoluten Dunkelheit haben diese letzten Lichtwellen einen gespenstischen Glanz. „Wir waren die ersten Lebenden, die auf die seltsame Beleuchtung da draußen vor dem Fenster hinausschauen durften, und sie war seltsamer noch, als irgendwelche Phantasie sich erträumen mochte“, schrieb er. „Sie bestand aus einem unbeschreiblich durchscheinenden Blau, ganz ungleich irgendeiner Erscheinung auf der Oberflächenwelt, und sie reizte unsere Sehnerven in höchst verwirrender Weise.“ Das Blau war von einer so durchdringenden Strahlkraft, dass er den Eindruck hatte, die Sprache könnte sie nicht beschreiben. Es war eher ein Gefühl als eine Farbe, und sie „schien wesenhaft durch das Auge in unser Innerstes einzugehen“.[6]
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Unter der Dämmerungszone liegt das Bathypelagial, die Mitternachtszone, die von einer Tiefe von 1000 bis auf 3000 Meter hinunterreicht – ein gewaltiges Unterwasserreich, so gespenstisch wie die dunkle Seite des Mondes. Doch anders als auf dem Mond ist dies der Nährboden für ein seltsames und wundervolles Lebensgefüge, für Kreaturen, die unter immensem Druck und bei eisigen Temperaturen in Gefilden gedeihen, die nie das Sonnenlicht gesehen haben.
Jegliches Licht hier unten hat seinen Ursprung in der Biolumineszenz. Ein Teil der Population der Mitternachtszone hat riesige Augen ausgebildet, die das fast unmerkliche Aufleuchten sich nähernder Fressfeinde oder Beutetiere erkennen. Andere haben fein abgestimmte Sinnesorgane, mit denen sie exzellent hören können. In dieser Tiefe gibt es wenig Nahrung, jedes Lebewesen sucht Futter und ist bemüht, nicht selbst gefressen zu werden. In den offenen Wassern der Tiefe existieren keine Felsen, die als Versteck dienen könnten, keine Spalten, um hineinzuhuschen, keine Bäume, die sich ersteigen ließen, kein Ort, um ein Loch zu graben. In dieser Umgebung ist die Fähigkeit zu verschwinden eine nützliche Adaptation. Eine Möglichkeit besteht darin, an diesem Ort ohne rotes Licht eine rote Färbung zu haben – ein Vorgang der optischen Auslöschung. Manche Tiefseefische treiben diesen Akt auf die Spitze. Sie sind ultraschwarz – ihre Haut ist dicht mit einem Pigment besetzt, das 99,5 Prozent jeglichen Lichts absorbiert, sodass sie schwimmenden schwarzen Löchern ähneln.
Eine andere Überlebensstrategie besteht in riesenhafter Größe. Neben Legionen von Winzlingen beherbergt die Mitternachtszone auch Giganten. Sie ist der Lebensraum der Riesen- und der Koloss-Kalmare, der größten Wirbellosen der Welt. Beide Arten haben Augen groß wie Volleybälle, diese eignen sich perfekt, um im Wasser die Lichtspuren der Pottwale, ihrer Erzfeinde, zu entdecken. Tiefseehaie schleichen durch die Mitternachtszone, exotische Arten wie der Koboldhai (rosa mit vorstehenden Kiefern und einer Art Speer am Kopf), der Grönlandhai (kräftig wie ein großer weißer Hai mit einer Lebenserwartung von mehr als 400 Jahren), der Riesenmaulhai (ein riesiger Filtrierer mit Lippen wie Mick Jagger) und der Kragenhai (aalförmig, mit rasiermesserscharfen Zähnen, als Star eines Horrorfilms geeignet).
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Steigt man weiter als 3000 Meter hinab, erreicht man das Abyssal – den wahrhaftigen Abgrund. Es reicht bis zu 6000 Metern in die Tiefe und bedeckt die Hälfte der Erdoberfläche. Hier befindet sich das größte Ökosystem des Planeten und wir wissen fast nichts darüber. Der Bereich, an dem diese tiefen Gewässer auf den Meeresboden treffen, wird Tiefseeebene genannt, ein hügeliges, mit Sedimenten bedecktes Flachland, das außergewöhnliches, zartes und empfindsames Leben beherbergt.
Diese Ebenen mögen ruhig erscheinen, sind aber häufig Schauplatz extrem dramatischer geologischer Ereignisse. Hier befindet sich unter anderem der mittelozeanische Rücken, eine 64000 Kilometer lange vulkanisch aktive Kluft, die den Globus wie eine scharfkantige Wunde umrundet. Die tektonischen Platten bewegen sich hier langsam auseinander, die ozeanische Kruste zerbricht und Magma quillt von unten hervor. Es ist ein Ort, an dem sich die Erde unablässig neu gestaltet, ein Ort ständiger Eruptionen, heftiger Erdbeben und qualmender hydrothermaler Quellen.
Die Tiefsee ist der Traum eines Surrealisten, nichts kann die schiere Merkwürdigkeit der hydrothermalen Quellen übertreffen. Diese Geysire sprudeln vulkanische Mineralien und Gase aus Rissen im Meeresboden und formieren sich zu wankenden, an Werke von Gaudí erinnernden Schornsteinen. Brennend heiße Flüssigkeit quillt wie schwarzer Rauch aus ihren Schächten (S. 24, Abb. 1). Die Quellen wurden in den 1970er-Jahren entdeckt und von Beginn an als geologische Wunder gefeiert. Bedeutender noch ist aber das in ihnen enthaltene Leben.
Niemand hatte erwartet, in einer von Lava verstopften, stockfinsteren Vulkanspalte, die kochend heiße Mineralien ausspuckt, viel Leben vorzufinden, aber die Quellen bergen einen zoologischen Garten an wundersamen Tieren: 1,8 Meter lange Röhrenwürmer, die mit blutroten Federn winken, Muscheln von Fußballgröße, herumschwirrende augenlose Garnelen, Albinokrebse, die durch die Schornsteine krabbeln. Die Fotosynthese – die Umwandlung von Sonnenlicht in Energie, die man für die einzige Energiequelle des Lebens gehalten hatte – spielt hier keine Rolle. Stattdessen bedienen sich diese Wesen der Chemosynthese, bei der durch chemische Reaktionen zwischen Flüssigkeiten und Gestein aus dem Erdinneren Energie erzeugt wird. Dieses Ökosystem erinnert an die Bar-Szene in Star Wars und setzt sich über alle unsere Regeln hinweg. Es gründet in einem gewagten chemischen Experiment, das bereits begann, als sich auf der Erde die Ozeane ausbildeten. Viele Wissenschaftler*innen glauben, dass Tiefseequellen die Orte sind, an denen der Funke des Lebens entstand. Das Abyssal, der Abgrund, ist unser Stammhaus.
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Dies ist der Grund der Welt, doch der Abstieg ist noch nicht vorüber. Unterhalb des Abyssals liegt das Hadal, benannt nach Hades, dem griechischen Gott der Unterwelt (und Bruder Poseidons). Die Gewässer des Hadals beginnen in einer Tiefe von 6000 Metern und reichen in Dutzende ultratiefe Gräben hinab, deren weit überwiegende Mehrzahl sich im Pazifik befindet. Sie haben die Form umgedrehter Himalaya-Gipfel. Die tiefste dieser Rinnen ist der Marianengraben, eine gut 2400 Kilometer lange und 70 Kilometer breite Kluft im Meeresboden in der Nähe von Guam. Zu ihr gehört das 10935 Meter hinabreichende Challengertief, der absolute Nadir des Meeres. Zum Vergleich: der Mount Everest ist 8848 Meter hoch.
Wie alle Gräben des Hadal wurde er durch eine Kollision tektonischer Platten geformt, bei der eine Platte eine andere nach unten in den Erdmantel drückte. Dieser Vorgang wird als Subduktion bezeichnet. Doch absinkende tektonische Platten gehen nicht in Frieden in die Nacht. Gestein verformt sich zu Gebirgen und Vulkanen, wenn die ozeanische Kruste bricht, bilden sich Verwerfungen, und wenn eine Platte unter der anderen entlangschabt, werden Sedimente freigekratzt, woraufhin submarine Erdlawinen entstehen. Sollten die Spannungen bei der Subduktion zunehmen, können die miteinander kämpfenden Platten plötzlich wegrutschen, was heftige Megathrust-Erdbeben hervorruft. Alle seismischen Aktivitäten können zu Schäden führen, in der Folge von Megathrust-Erdbeben entstehen jedoch verheerende Tsunamis – wie etwa bei dem Albtraum in Indonesien 2004 oder der Katastrophe in Japan 2011.
Dies ist nicht der einzige gefährliche Faktor in den Tiefseegräben. Alles, was in diesen Tiefen überlebt, muss Wassertemperaturen knapp über dem Gefrierpunkt und einen Druck von gut 1100 Atmosphären ertragen. Und obwohl der Hades in der Mythologie als Totenreich fungiert, ist das Hadal der Meere – wie der Rest der Tiefsee – eine Fundgrube prachtvoller Lebewesen.
Möglicherweise sind feuerrote Garnelen zu sehen, die akrobatische Übungen vollführen, oder kristallweiße Anemonen, die von Felsen winken. Es könnte ein Bartmännchen (S. 25, Abb. 2) auftauchen, ein stämmiges Tier mit Blasenaugen und einem Maul wie ein Staubsauger. Quallen, Seescheiden, Schlangensterne, Mollusken, Seegurken, Borstenwürmer, Asseln, Schwämme – alle sind sie im Hades vertreten. Überall flitzen Flohkrebse herum, stachelige Krustentiere, deren Größe zwischen 2,5 und 30 Zentimetern rangiert – der Gigantismus der Tiefsee schlägt wieder zu. Vielleicht zeigt sich ein Hadal-Schneckenfisch, dessen Lebensraum am weitesten in der Tiefe liegt – ein engelsgleich aussehendes Wesen von durchsichtigem Pink, das Flohkrebse wie Cocktail-Erdnüsse verschlingt. Im Hadal könnte man über Dünen fliegen, die von Schwefel gelb getönt wurden und auf denen Seelilien wie Narzissen prangen, oder Klippen besteigen, die mit orange- und intensiv pinkfarbenen Matten aus Mikroben überzogen sind. Alles ist dramatisch, alles ist schön – und von pulsierendem Leben erfüllt.
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Folgerichtig wäre wohl, dass wir alles stehen und liegen lassen, um mehr über dieses sagenhafte Paralleluniversum zu erfahren, das unseren Planeten umgibt, zumal auch unser Überleben davon abhängt. Stattdessen hat die Menschheit die Tiefsee weitgehend ignoriert. Die wissenschaftliche Erkundung ist chronisch unterfinanziert, während für die Erforschung des Planeten Mars, eine karge Kugel aus giftigem Staub, immer noch Milliarden ausgegeben werden.
Es ist, als ob wir in einem Palast lebten, der mit Schätzen, Kunstwerken und fantastischen Tieren angefüllt ist, wir uns aber nicht die Mühe gemacht haben, in die Mehrzahl der Räume auch nur hineinzuschauen. Dies ist, gelinde gesagt, ein Versagen unserer Wissbegierde. Für eine Spezies, die so viel Kreativität und Vorstellungskraft besitzt, haben wir unser Spektrum in untypischer Weise eingeschränkt, unsere Aufmerksamkeit nach außen und oben gerichtet, als wären dies die einzigen wichtigen Dimensionen. Was aber, wenn es umgekehrt wäre? Was ist, wenn alles immer verwunderlicher wird, je tiefer man kommt?
Je weiter wir nach unten vorgedrungen sind, desto mehr mussten wir unsere Vorstellung davon berichtigen, wie die Erde funktioniert, was wir aus der fernen Vergangenheit lernen können, über unseren Platz im gesamten Lebensplan – und wir mussten sogar unsere Definition des Lebens revidieren. Inzwischen ist es offensichtlich, dass die Natur als intensiv vernetztes System funktioniert, dessen „Motherboard“ die Tiefsee ist. Während wir an dieser Maschinerie herumbasteln, haben wir jedoch allenfalls einen blassen Schimmer von ihrer Funktionsweise. Die Tiefsee sorgt (jedenfalls bisher) für die Zwischenspeicherung unseres überschüssigen Kohlenstoffs, steuert die Ozeanzirkulation (und damit das Klima), reguliert die Geochemie der Erde (milde ausgedrückt: sehr wichtig) und absorbiert überschüssige Hitze (dito) – um nur einige ihrer Leistungen zu nennen. Sie ist ein Reservoir der genomischen Innovation, eine ausgedehnte Galaxie aus Mikroben. Sie summt in der Dunkelheit vor sich hin – und bildet das Fundament des Planeten.
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Noch nie war die Zeit besser, um die Unterwelt zu erforschen. Die Technik hat den Tresor geknackt. Mit künstlicher Intelligenz ausgestattete Tiefseeroboter, bemannte Unterwasserfahrzeuge, die gefahrlos die tiefsten Bereiche des Ozeans erreichen können (S. 26, Abb. 3), Tiefsee-Observatorien, die mit dem Internet verbunden sind, Scanner, die DNA im Wasser sequenzieren – eine Liste der neuesten Werkzeuge der Meereswissenschaften würde viele Seiten umfassen. Aber es gibt noch eine andere Liste, die es zu berücksichtigen gilt – und sie ist nicht schön. Gerade jetzt, da wir uns (endlich) mit der Tiefsee vertraut machen, werden auch die Bedrohungen, die wir für sie darstellen, immer größer.
Es gibt bereits beunruhigende Anzeichen für einen Wandel in den Meeren, die sich erwärmen, übersäuern, weniger Sauerstoff produzieren – die sich verändern. Die Ökosysteme der Tiefsee, deren Wirken sich auf geologische Zeiträume bezieht und fern von den meisten Oberflächenstörungen erfolgt, sind besonders empfindlich gegenüber abrupten Veränderungen. Erderwärmung, Umweltverschmutzung, Bergbau – wir belasten die Tiefsee bereits in vielfacher Weise. Sogar die Tiefseegräben des Hadal sind mit Industriegiften, giftigen Chemikalien, Mikroplastik, Flammschutzmitteln, Pestiziden, Pharmazeutika und radioaktiven Abfällen angefüllt. Von den sonnenbeschienenen Gewässern bis zu den tiefsten Sedimenten haben wir unsere Spuren hinterlassen.
Leider ist das nicht alles. Vielleicht war es unvermeidlich, dass die Fischereiindustrie, die bereits die Bestände der oberen Wasserschichten erschöpft hatte, die Tiefsee ins Visier nehmen würde. Von der Dämmerungszone wird angenommen, dass sie 10 Milliarden Tonnen Fisch enthält. Natürlich werden wir den Krill, die Borstenmäuler und Quallen, die wir hochholen, nicht wirklich essen. Sie werden zu Fischmehl, Geflügelfutter, nutrazeutischen Ölen und Pflanzendünger zermalmt. In der Geschichte der schlechten Ideen gebührt dieser ein Ehrenplatz: Wenn wir in diesen Tiefen am Gleichgewicht des Lebens herumpfuschen, wird sich die Fähigkeit der Meere, der Atmosphäre Kohlenstoff zu entziehen, verringern; außerdem werden die Nahrungsnetze des Ozeans gestört (wenn nicht gar zum Zusammenbruch veranlasst). Sollte die Unterstützung der Dämmerungszone ausfallen, rechnet man mit einem Anstieg der durchschnittlichen Temperaturen auf der Erde um 3 bis 6 Grad Celsius.
Andernorts sollen große Bereiche des Meeresbodens durch den Tiefseebergbau zerstört werden. Das Vorhaben wurde noch nicht begonnen, scheint aber direkt bevorzustehen: Der Meeresbodentagebau ist ein langgehegter Wunsch der Unternehmen. Die Tiefen des Abyssals sind reich an polymetallischen Knollen – Nuggets aus Mangan, Nickel, Kobalt und Kupfer, die über Äonen mithilfe von Mikroben aus dem Seewasser ausgefällt wurden, unter Nutzung einer Alchemie, die wir nicht verstehen. Die Knollen bilden – ähnlich wie Wälder oder Korallenriffe – ein lebendes System, sind aber weitaus älter.
Die Befürworter*innen des Tiefseebergbaus lassen sich von ihrem Mangel an grundlegendem Wissen über das, was sie zerstören würden, nicht beunruhigen. Ihr erstes Ziel ist die Clarion-Clipperton-Zone (CCZ), ein riesiger Bereich des Meeresbodens, der sich von Mexiko bis Hawaii erstreckt. Die Betreiber*innen des Tiefseebergbaus bezeichnen die CCZ als „unbelebte Wüste“, doch haben die Wissenschaftler*innen, die sich in aller Eile um die Erforschung des bedrohten Gebiets bemühen, an diesem Ort eine spektakuläre Biodiversität entdeckt – das Mosaik einer einzigartigen Fauna, die mit den Knollen in Symbiose lebt. Im Durchschnitt sind 90 Prozent der hier gefundenen Tiere der Wissenschaft bisher unbekannt.
Diese merkwürdigen kleinen Kugeln stellen ein von Leben erfülltes Habitat dar, doch ist dies nicht ihre einzige Funktion. Aktuelle Forschungen zeigen, dass sie eine bisher unbekannte Rolle in der Biogeochemie des Meeres spielen: Mittels einer elektrochemischen Reaktion auf ihren Oberflächen erzeugen die Knollen eine Ladung von einem Volt, die das Meereswasser in Wasserstoff und Sauerstoff spaltet – die Wissenschaftler*innen nennen ihn „dunklen Sauerstoff“.
Eine andere Sauerstoffquelle als auf dem Festland? Es dürfte sich um etwas handeln, das wir keinesfalls zerstören sollten. Keine extraktive Branche ist umweltfreundlich, der Tiefseebergbau allerdings ist in seinem Verwüstungspotenzial einzigartig, weil die Schäden irreversibel wären – und wir werden nicht einmal wissen, was wir zerstört haben. Tausend der führenden Meereswissenschaftler*innen der Welt haben eine Petition unterzeichnet, die ein Moratorium für alle Tiefseebergbaupläne fordert. Sie erwähnen „das Risiko des umfangreichen und dauerhaften Verlustes von Biodiversität, Ökosystemen und ihren Funktionen“. Sie fordern 10 bis 30 Jahre für weitere Forschungsvorhaben, bevor der Tiefseebergbau auch nur in Erwägung gezogen wird. Etwas zu verlangen, bedeutet aber noch lange nicht, es auch zu bekommen: Die ersten großangelegten Versuche des Knollenabbaus werden möglicherweise noch in diesem Jahr durchgeführt werden.
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Es wäre verzeihlich, sich zu fragen, warum in einer Welt mit einem Wust an Problemen gerade die Tiefsee hoch auf der Prioritätenliste stehen sollte. Schließlich haben wir es bis hierher geschafft, obwohl wir sie dabei größtenteils ignoriert haben. „Es ist verführerisch zu versuchen, ohne eine Unterwelt, ohne Seele und ohne Rücksicht auf die geheimnisvollen Elemente zu leben, die das Spirituelle streifen“, hielt der Schriftsteller Thomas Moore fest.[7] Dies wäre jedoch ein Fehler, denn diese „geheimnisvollen Elemente“ sind wichtiger, als wir ahnen. Jenseits des Gewöhnlichen liegt das Außergewöhnliche; unter der Oberfläche liegt die Tiefe – wie tragisch wäre es, sie zu übersehen.
Die Wissenschaft liefert entscheidende Informationen, aber das Hinzufügen weiterer Fakten berührt uns nicht. Tiefenkarten können uns den Meeresboden in den Farben eines Cartoons vorführen, aber wie viele Details auch immer wiedergegeben werden – es handelt sich doch um eine Abstraktion. Was fehlt – und wonach wir uns auf irgendeine unergründliche Weise sehnen –, ist eine emotionale Beziehung zur Tiefsee.
Ja, die ozeanische Unterwelt ist stockfinster und eisig, und ja, sie ist ziemlich furchterregend, und nein, wir können nicht einfach mal kurz vorbeigehen. Wir können dort unten nicht atmen, riechen oder sehen; die Tiefsee ist nicht für uns gemacht. Sie lässt es nicht zu, schnell Bekanntschaft mit ihr zu schließen, aber genau das macht ihren Reiz aus. In der Andersartigkeit der Tiefe liegt die Essenz ihrer Verlockung, und sie verdient es, ihren eigenen Bedingungen entsprechend gewürdigt zu werden. „Um diese Welt des Wassers, die den Meereswesen vertraut ist, zu spüren, müssen wir unsere menschlichen Vorstellungen von Länge und Breite, von Zeit und Ort […] ablegen“, empfahl die Meeresbiologin und Autorin Rachel Carson mit der ihr eigenen poetischen Klarheit.[8] Es wäre auch hilfreich, könnten wir unsere erdgebundene Voreingenommenheit aufgeben, die falsche Annahme – dass alles Bedeutsame auf dem Festland passiert, einfach weil wir dort leben.
Diese anthropozentrischen Scheuklappen halten uns – wie William Beebe deutlich machte – in „furchtbar engen Grenzen“ gefangen. Um diese Beschränkung zu überwinden, müssten wir in ein Reich hinabsteigen, das die meisten Menschen niemals direkt erleben werden. Es ist ein Ort jenseits des Verstandes, den Egos nicht erreichen, wo Geld keine Hilfe und Demut der Eintrittspreis ist. Abgesehen von einem Tiefsee-Unterseeboot kann uns nur die Kunst dorthin Zugang verschaffen.
Geschichten, Bilder, Klänge, Schwingungen – sie geben die Impulse zum Eintauchen mit allen Sinnen. In seiner herausragenden Ausstellung Midnight Zone übersetzt Julian Charrière die langsamen Rhythmen hydrothermaler Quellen in Musik, die biolumineszenten Codes der Tiefseewesen in Bewegung, die Ehrfurcht erregende Ausstrahlung des Abgrunds in ein Gefühl im Solarplexus. Charrière ist tief unter die Oberfläche getaucht und mit neuen Eindrücken zurückgekehrt. Die Wissenschaft enthüllt die Unterwelt, die Kunst lässt sie uns erspüren.
Welches Lebewesen, welche Landschaft, welchen Aspekt der Tiefsee man auch betrachtet – ihre Geschichte ist unsere Geschichte. Sicherlich in einem anderen zeitlichen Rahmen, in einem anderen Element, aber unser Schicksal und das des Meeres sind identisch. Nur eine tief empfundene Bindung wird uns wachrütteln und dazu bringen, die Tiefsee zu verstehen, bevor ihre Veränderungen uns überwältigen, uns veranlassen, sie zu erforschen, bevor sie durch die Ausbeutung bis zur Unkenntlichkeit entstellt wurde, sie und uns selbst in einer Zeit beunruhigenden Wandels zu schützen. Wenn wir dies tun, werden wir endlich die Erhabenheit unseres eigenen Zuhauses erkennen.
Anmerkung der Herausgeber
Diesem Aufsatz liegt folgendes Buch zugrunde: Susan Casey, The Underworld: Journeys to the Depths of the Ocean, New York 2023. Die stilistischen Gepflogenheiten wurden an die vorliegende Publikation angepasst. © Susan Casey.
[1] Ean Higgins, „Search for MH370 Unveils a Lost World Deep Beneath the Ocean“, in: The Australian, 21. Juli 2017.
[2] Roberto Danovaro u. a., „Towards a Marine Strategy for the Deep Mediterranean Sea: Analysis of Current Ecological Status“, in: Marine Policy 112 (Februar 2020).
[3] William Beebe, 923 Meter unter dem Meeresspiegel, Leipzig 1940, S. 16 und 19.
[4] Ebd., S. 164.
[5] Ebd., S. 117 und 139.
[6] Ebd., S. 91 und 92.
[7] Thomas Moore, Care of the Soul: A Guide for Cultivating Depth and Sacredness in Everyday Life, New York 1992, S. 43.
[8] Rachel L. Carson, „Undersea“, in: The Atlantic, September 1937, online: https://www.theatlantic.com/magazine/archive/1937/09/undersea/652922/ [12.05.2025].