Kurt Schwitters
MERZ – ein Gesamtweltbild

1. Mai – 22. August 2004

Schwitters zählt zu den herausragenden, in der Schweiz aber relativ unbekannten Pionieren der Kunst der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Nach dem Ersten Weltkrieg stellte Schwitters provokativ fest, dass man auch «mit Müllabfällen schreien» könne und verwendete fortan alltägliche Materialien und Fundobjekte für seine Collagen und Assemblagen. 1919 erfindet er mit dem aus dem Schriftzug «Kommerz- und Privatbank» entnommenen Begriff «Merz» seine eigene Kunstrichtung. Alle Bereiche seiner vielfältigen künstlerischen Tätigkeiten – Malerei, Skulptur, Architektur, Dichtung, Theater, Typografie und Happening – fasst er von nun an unter dem Begriff «Merz» zusammen.

Mit seiner programmatischen Idee eines «Merz- Gesamtweltbildes», das alle Lebens- und Kunstbereiche erfassen sollte, wurde er vorbildhaft für das Denken und Schaffen vieler Künstler der Nachkriegsgeneration. Für Jean Tinguely war Kurt Schwitters neben Marcel Duchamp wichtigstes künstlerisches Vorbild: «ich war ... total verschwittert, Schwitters war mein grosser Mann».

Im Zentrum der Ausstellung steht Schwitters’ Lebenswerk und Kulminationspunkt seiner Idee eines Gesamt- kunstwerks: der Merzbau. Ab 1923 entstand er im Atelier und der Wohnung des Künstlers in Hannover als monumentale Raum-Assemblage. Zu sehen ist nun im Museum Tinguely eine begehbare Rekonstruktion des 1943 vollständig zerstörten Merzbaus, die auf Initiative von Harald Szeemann von Peter Bissegger auf der Grundlage von Originalfotografien und der Hilfe von Ernst Schwitters gebaut wurde. Ergänzt wird sie durch Foto- und Textdokumente sowie ausgewählte Reliefs, Collagen und Plastiken aus den späten zwanziger Jahren, die Schwitters’ damalige Beeinflussung durch konstruktivistische Tendenzen verdeutlichen. Doku- mentiert werden auch die drei weiteren, ebenfalls zerstörten Merzbau-Projekte des Künstlers im norwegischen und englischen Exil.

In weiteren, thematisch konzipierten Räumen verdeut- lichen Merzzeichnungen und Merzbilder aus der gesamten Schaffenszeit, frühe Lithografien, Stempel- zeichnungen und dadaistische Aquarelle aus den zwanziger Jahren, die aus Druckereiabfällen gefertigten «i-Zeichnungen» sowie die von ihm herausgegebene und gestaltete Zeitschrift Merz und seine Ursonate die gattungsübergreifende Idee von «Merz».

In thematische Gruppen geordnet, zeigt die Ausstellung Aspekte auf, die auch in Tinguelys Werk zentral sind: die Verwendung des Prinzips der Collage und der Montage, die Persiflierung des Maschinenzeitalters durch die Verwendung von Motiven und Materialien aus der technisierten und urbanen Alltagswelt, den Einsatz des Zufalls und den Gebrauch industriell gefertigter Materialien als künstlerisches Medium.

Zentral im Œuvre von Schwitters wie auch in jenem von Tinguely ist das Evozieren von doppeldeutig- hintergründigen Assoziationen, wodurch der Betrachter selbst Teil des Kunstwerks wird. In einem weiteren Bereich der Ausstellung wird die durch den Merzbau und die Merzbühne beeinflusste Idee Tinguelys von begehbaren Konstruktionen, die «multikulturelle- und funktionelle Erlebnisskulpturen» sein sollten, präsentiert. Im Zentrum steht eine filmische Grossprojektion des Cyclops im Wald bei Milly-la-Forêt sowie Zeichnungen, Modelle und Fotos der verschiedenen «Kulturstationen», an deren Realisierung Tinguely seit den frühen sechziger Jahren mit seinen Künstlerfreunden gearbeitet hat.

Unsere Schwitters-Ausstellung zeigt aber vor allem, wie es dem Künstler gelang, aus den Bruchstücken einer zerstörten Welt und Alltags-Materialien eine neue Bildschönheit zu formen.

Das Kunstmuseum Basel zeigt mit «Schwitters Arp» parallel zur Ausstellung im Museum Tinguely weitere Aspekte von Schwitters’ Werk.

Zur Ausstellung erscheint im Benteli-Verlag, Bern, ein reich illustrierter Katalog in Deutsch und in Englisch, ca. 288 Seiten, Preis: ca. CHF 59.–. Neben einem Vorwort von Guido Magnaguagno werden in kunsthistorischen Texten verschiedene Aspekte der Merz-Idee von Kurt Schwitters beleuchtet: Karin Orchard (Überblick über die Merzbau-Projekte), Beat Wyss (Merzkunst im Zeitalter der technischen Reproduktion), Christoph Bignens (Merz im Maschinenzeitalter), Ralf Burmeister (Mentalitäts- unterschiede zwischen Dada und Merz), Christian Janecke (Zufall im Werk von Kurt Schwitters), Juri Steiner (Dada, Merz und das Parallelwerk), Iris Bruderer-Oswald (Dokumentation der Freundschaft zwischen dem Künstler und der Kunsthistorikerin Carola Giedion Welcker). Texte und Dokumente von Kurt Schwitters sowie Künstlerstatements von Karl Gerstner, Eric Hattan, Thomas Hirschhorn, Konrad Klapheck, Jakob Kolding, Daniel Spoerri, Klaus Staeck und Jean Tinguely zu Person und Werk von Kurt Schwitters ergänzen die Publikation.