Suzanne Lacy
By Your Own Hand

Suzanne Lacy, «De tu puño y letra (By Your Own Hand)» (2014–15/2019). Sechs-Kanal-HD-Videoinstallation, mit Ton, 30 Min., Teilansicht der Installation im Queens Museum, New York. Courtesy the artist; Foto: Hai Zhang, courtesy Queens Museum

Suzanne Lacy: By Your Own Hand

9. April 2025 – 7. September 2025

Gewalt und Tod treffen die Menschen nicht gleich. Je nach sozialem Geschlecht – aber auch abhängig von Wohlstand oder Race – sind Menschen sehr unterschiedlich davon betroffen. Geschlechtsspezifische Gewalt ist alltäglich und weit verbreitet, erfährt aber erst seit wenigen Jahren vermehrt Aufmerksamkeit in Politik und Gesellschaft. Sie ist das Thema der Videoinstallation De tu puño y letra (By Your Own Hand) (2014–2015/2019) von Suzanne Lacy. Die in Los Angeles lebende Künstlerin ist Pionierin feministischer und aktivistischer Performancekunst. Mit ihrer partizipativ ausgerichteten und häufig in Zusammenarbeit mit lokalen Gemeinschaften entstehenden Social Practice engagiert sich Lacy gegen gesellschaftliche Missstände und für marginalisierte Gruppen. Schon seit den frühen 1970er-Jahren thematisierte sie Vergewaltigungen, gab den betroffenen weiblich gelesenen Personen eine öffentliche Stimme und benannte die patriarchalen Ursachen dieser Gewalt.

Suzanne Lacy, De tu puño y letra (By Your Own Hand), 2014-15/2019, Dokumentation Videodreh, 2017; Foto: Andres Molestina.

In der Videoinstallation De tu puño y letra (By Your Own Hand) (2014–2015/2019) treten nacheinander männlich gelesene Personen vor, die in sachlichem Ton Auszüge aus Briefen lesen. Es sind erschütternde Zeugnisse brutaler geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt, welche eine tiefe Beklemmung hinterlassen. Sie reichen von sexuellen Übergriffen bis hin zu Gruppenvergewaltigung und Femizid. Die Filmaufnahmen entstanden in einer Stierkampfarena in Quito, einem männlich konnotierten Raum, der traditionell von Gewalt und Dominanz geprägt ist. Die kreisförmige Anordnung der Projektionen versetzt das Ausstellungspublikum selbst in die Mitte der Arena und konfrontiert es direkt mit den Worten und Blicken der Akteure. Die lebensgrosse Darstellung macht die körperliche und emotionale Herausforderung ihres Auftrittes spürbar.

Die bewusste Entscheidung, männlich gelesene Personen die Zeugnisse weiblich gelesener Gewaltopfer vortragen zu lassen, unterstreicht die Rolle des Patriarchats als strukturelle Grundlage dieser Gewalt. Zugleich wird die Diskrepanz zwischen den männlichen Stimmen und den weiblichen Erfahrungen zu einem zentralen Element, das zum Nachdenken anregt und eine Reflexion über Geschlecht, Macht und Glaubwürdigkeit ermöglicht. Die Projektion endet mit einer zentralen Botschaft, welche die Perspektive von der individuellen auf die gesellschaftliche Ebene hebt:

«It’s necessary not to be afraid, I told myself, necessary to write in order to heal, share the pain with others.»

Suzanne Lacy, De tu puño y letra. Diálogos en el ruedo, 2015. Performance, Stierkampfarena Plaza Belmonte, Quito, Ecuador; Foto: Christoph Hirtz

Lacys Videoinstallation beruht auf einer partizipativen und dialogischen Performance der Künstlerin aus dem Jahr 2015. Die Künstlerin war eingeladenen worden, eine Performance zu entwickeln, um den im Rahmen der Kampagne Cartas de Mujeres (2011-2012) gesammelten Briefen öffentliche Aufmerksamkeit und Anerkennung zukommen zu lassen. Cartas de Mujeres war ein Projekt der Stadt Quito, des Centro de Arte Contemporáneo de Quito, UN Women und der deutschen Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) Ecuador zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen. Die Performance fand als Event mit fünf Akten und unter Beteiligung von rund 600 männlich gelesenen Personen am 25. November 2015, dem Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen, in Quito statt. Diesem vorausgegangen waren Workshops mit Männern und Jungen zu genderspezifischer Gewalt und dem sozialen Konstrukt von Maskulinität. 

Suzanne Lacy, Judy Chicago, Sandra Orgel und Aviva Rahmani, Ablutions (1972). Foto: Courtesy the Artist
 

Die partizipativen Arbeiten Suzanne Lacys zeigen die transformative Kraft von Kunst und deren Potenzial, gesellschaftliche Debatten anzustossen. Als eine der führenden Stimmen der feministischen Kunstbewegung der 1970er Jahre entwickelte sie mit Social Practice ein neues Modell, das Kunst mit sozialem Handeln verbindet. Ausserordentlich früh, bereits seit Anfang der 1970er Jahre, befasst sich Lacy in ihren Kunstwerken mit sexualisierter Gewalt. 1972 organisierte sie mit der Performance Ablutions (zusammen mit Judy Chicago, Sandra Orgel und Aviva Rahmani) eines der ersten Kunstwerke zum Thema Vergewaltigung aus der Perspektive von weiblich gelesenen Personen überhaupt. Besonders hervorzuheben ist auch Three Weeks in May von 1977, eine dreiwöchige Performance rund um Vergewaltigungen in Los Angeles (zusammen mit Leslie Labowitz und Ariadne: A Social Art Network). Mit diesen frühen Kunstwerken waren Lacy und ihre Kolleginnen nicht nur künstlerisch, sondern auch gesellschaftlich Vorreiterinnen in der öffentlichen Thematisierung genderspezifischer Gewalt aus dezidiert weiblicher Perspektive. In ihren Werken wurden den betroffenen Frauen eine Stimme zuerkannt und die patriarchalen gesellschaftlichen Ursachen für diese Gewalt benannt.

Die Ausstellung im Museum Tinguely betont die globale und aktuelle Relevanz des Themas. Ein besonderer Akzent wird durch die räumliche Nachbarschaft der Videoinstallation mit Jean Tinguelys Werk Mengele-Totentanz (1986) gesetzt. In dieser düsteren, kinetischen Installation aus verkohlten Maschinenteilen und Tierknochen thematisierte Tinguely (1925–1991) Gewalt und Tod aus einer historischen und persönlichen Perspektive. Während die spätmittelalterliche Tradition die Vergänglichkeit aller Menschen und die Gleichheit aller im Tode vermittelt – vom König bis zum Bettler – ist heute klar, dass die Menschen je nach sozialem Geschlecht – aber auch abhängig von Wohlstand oder Race – sehr unterschiedlich davon betroffen sind. Häusliche und sexualisierte Gewalt sind alltäglich und weit verbreitet. Auch Niki de Saint Phalle (1930–2002), die zweite Ehefrau und Sammlungsstifterin des Museums, war davon betroffen. 1994 berichtete sie in ihrem Buch Mon secret vom eigenen Missbrauch durch ihren Vater im Alter von 11 Jahren. In ihren Werken klagte sie patriarchale Strukturen an und machte die Rolle von Gewalt und Machtmissbrauch sichtbar.

Suzanne Lacy, De tu puño y letra. Diálogos en el ruedo, 2015. Performance, Stierkampfarena Plaza Belmonte, Quito, Ecuador; Foto: Christoph Hirtz

Lateinamerikanische Feminist:innen sind bis heute Vorreiter:innen im Kampf gegen geschlechtsspezifische Gewalt und Femizide. Demgegenüber erfährt das Thema in Europa und der Schweiz erst seit wenigen Jahren verstärkt Aufmerksamkeit in Politik und Gesellschaft. Mit Vorträgen, Gesprächsrunden und einem partizipativen Schreibprojekt fokussiert das Begleitprogramm auf die hiesige Situation und lädt zum Dialog ein. Hierzu kooperiert das Museum Tinguely unter anderem mit der Opferhilfe beider Basel, dem Literaturhaus Basel und dem Q.U.I.C.H.E Kollektiv. Im Rahmen der Ausstellung zeigt das Museum Tinguely auch die Performance The hand, the rock, your shoulder, and my mouth (2022) von Tyra Wigg. Im Kontrast zu einer sich als Gewalt äussernden Berührung steht Berührung als Pflege und therapeutische Praxis im Mittelpunkt der Performance. In der Handhabung eines grossen Steins und dem sorgsamen und heilenden Umgang mit Körper und Trauma entsteht so ein buchstäbliches Gegengewicht.

Kuratiert von Dr. Sandra Beate Reimann.

Zur Ausstellung erscheint eine Publikation (ca. 50 Seiten) mit enem wissenschaftlichen Beitrag und Interview im im Verlag für moderne Kunst.

>> Awareness-Konzept zur Ausstellung

Biografie Suzanne Lacy

Suzanne Lacy (*1945) ist eine Pionierin feministischer und aktivistischer Performancekunst sowie der New Genre Public Art und Social Practice. Sie setzt sich in ihren Arbeiten unter anderem mit sexualisierte Gewalt, Altersdiskriminierung, Armut, Gefangenschaft und Immigration auseinander. Dabei steht stets das Anliegen, Menschen zusammenzubringen, im Zentrum und ihre Arbeiten entstehen häufig in Zusammenarbeit mit lokalen Gruppen. Ihre Praxis umfasst choreographierte und dialogische Performances, soziologische Recherchen, die Durchführung von Workshops, gemeinschaftliche Organisation, Kartographieren und kartographische Visualisierungen (mapping), Fotografie, Videoproduktion und -installation sowie Interventionen in den Massenmedien. Lacys Wurzeln liegen in der frühen kalifornischen Performancekunst von Allan Kaprow und der feministischen Kunstpraxis Judy Chicagos. Grosse Retrospektiven von Lacys Werk wurden im San Francisco Museum of Modern Art und Yerba Buena Center for the Arts, San Francisco (Suzanne Lacy: We Are Here, 2019) und im Queens Museum (Suzanne Lacy: The Medium is Not the Only Message, 2022) gezeigt. Die Künstlerin realisierte umfassende soziale und politische künstlerische Interventionen in London, Brooklyn, Medellín, Los Angeles, Madrid und zuletzt in Manchester. 2025 nimmt sie mit mehreren Werken an der Sharjah Biennial 16 teil. Lacy ist Professorin an der Roski School of Art and Design an der University of Southern California und Resident Artist am 18th Street Arts Center in Santa Monica, Kalifornien.

Portrait Suzanne Lacy; Foto: Brittney Valdez